Der mit Abstand größte Strom der Erde entsprang einst in Afrika – und er wechselte seine Fließrichtung. Das schließen Wissenschaftler aus den Überresten von Organismen.

Stuttgart - Wer in den dunkelgrünen Regenwald weit im Westen des Amazonasbeckens eintaucht, kann sich kaum vorstellen, dass dort noch vor 14 Millionen Jahren die salzigen Wellen eines Meeresarms ans Ufer schwappten. Carlos Jaramillo vom Smithsonian Tropical Research Institute in Panama und seine Kollegen schließen das aus zwei fast 700 und gut 400 Meter tiefen Bohrungen im Osten Kolumbiens und im Nordwesten Brasiliens. In bestimmten Tiefen entdeckten die Forscher die Überreste von Organismen, die nur im flachen Wasser warmer, tropischer Meere leben.

 

Gleich zweimal – vor rund 18 Millionen sowie vor etwa 14 Millionen Jahren – muss sich damals ein Meeresarm von der Karibik bis in den Westen des heutigen Brasiliens erstreckt haben, berichteten die Wissenschaftler kürzlich in der Online-Zeitschrift „Science Advances“. Sie liefern damit einen wichtigen Puzzlestein für eine der dramatischsten Episoden der Geowissenschaften. Genau in dieser Zeit hat der Amazonas offenbar seine Fließrichtung umgekehrt. Für viele mag diese vielleicht größte Wende in der Geschichte der Erde mehr als fantastisch klingen. Aber mehrere Geowissenschaftler haben in den vergangenen Jahren immer wieder wichtige Indizien für die Umkehr des größten Stroms der Erde gefunden.

Der Anfang der Geschichte dürfte mindestens 130 oder 140 Millionen Jahren zurückliegen. Damals könnte der Ur-Amazonas im Ennedi-Massiv entsprungen sein, das heute im Nordosten des Tschad mitten in der Sahara Afrikas liegt. In dieser Epoche hingen Afrika und Südamerika noch zusammen und bildeten mit der Antarktis, Australien, Madagaskar und Indien einen Gondwana genannten Superkontinent. Über den heutigen Tschad-See und das Tal des Nigerflusses floss der Ur-Amazonas damals zu einem alten Grabensystem und weiter quer durch das heutige Südamerika.

Die Anden gab es noch gar nicht

Weil es die Anden damals noch gar nicht gab, sei der gigantische Strom nach rund 14 000 Kilometern ungefähr dort, wo heute der Staat Ecuador liegt, in den Pazifik gemündet, vermuten die Forscher. Jahrmillionen später begann zwischen dem heutigen Südamerika und Afrika Magma aus der Tiefe zu quellen und drückte die beiden Kontinente mit einer Geschwindigkeit von wenigen Zentimetern im Jahr auseinander. Der Graben zwischen beiden Kontinenten füllte sich mit Wasser, mit der Zeit entstand der Südatlantik, der diesen Ur-Amazonas in einen afrikanischen und einen südamerikanischen Teil trennte.

„Das heiße Magma in der Tiefe hebt die Ränder eines solchen Grabenbruchs in die Höhe“, erklärt Onno Oncken, der am Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam die Geologie der Anden untersucht. Eine ähnliche Entwicklung sieht man heute zum Beispiel am Grabenbruch, durch den der Rhein zwischen Basel und Karlsruhe fließt. Östlich und westlich des Flusses wölben sich der Schwarzwald und die Vogesen bis in 1500 Meter Höhe.

Auch der junge Atlantik war damals wohl von solchen Randgebirgen gesäumt. Dort wiederum regneten viele Wolken ab. Sie könnten an der Atlantikküste Südamerikas genug Wasser geliefert haben, um den Ur-Amazonas weiter nach Westen strömen zu lassen. So blieb der einstige Unterlauf des Ur-Amazonas erhalten und mündete weiterhin in den Pazifik.

Meerestiere im Ur-Amazonas

Später begann das nach Westen gedrückte Südamerika mit der Erdplatte zu kollidieren, auf der die Wasser des Pazifiks schwappen. So wie sich bei einem Autounfall das Blech in der Knautschzone verbeult, faltete sich in der Aufprallzone die Erde auf. „Dort wo heute die zentralen Anden sind, gab es vor 40 Millionen Jahren mindestens ein Hügelland“, erläutert Onno Oncken die Folgen der Kollision in Südamerika. Damals konnte sich der Ur-Amazonas wohl noch durch die Hügel graben. Wie in anderen großen Strömen schwammen damals wohl verschiedene Tierarten aus dem Pazifik ein Stück weit den Ur-Amazonas hinauf.

„Vor 25 Millionen Jahren aber beschleunigte der Prozess sich, und vor zehn Millionen Jahren schaltete die Gebirgsbildung den Nachbrenner ein“, berichtet Onno Oncken weiter. Irgendwann konnte der Ur-Amazonas mit dieser immer schneller werdenden Auffaltung aber nicht mehr mithalten, bald versperrten die Anden den Weg zum Pazifik. Dadurch war den Seekühen und Delfinen, Haien und Rochen, Garnelen und Seezungen, die vorher den Fluss hinauf geschwommen waren, der Rückweg ins Meer abgeschnitten.

Die heftigen Niederschläge an der immer höher in den Himmel ragenden Gebirgskette der Anden flossen damals wie heute wohl in großen Flüssen nach Osten. Als sich vor 18 und vor 14 Millionen Jahren dann der Nebenarm der Karibik weit nach Süden in das heutige Amazonasbecken ausdehnte, mündeten diese Gewässer also in der Karibik. Allerdings existierte der südliche Teil dieses Randmeeres in der ersten Episode nur 200 000 und in der zweiten rund 400 000 Jahre. Danach versperrte ein Hügelland den Weg nach Norden.

Ein neuer Weg zum Atlantik

Jetzt sammelte sich das Wasser in riesige Seen oder Sumpfgebieten am Ostabhang der Anden. In dieser Zeit war das Magma in der Tiefe am Rand des Atlantiks langsam ausgekühlt. Dort senkte sich das Land daher wieder ab, und die Gewässer vom Ostabhang der Anden konnten sich irgendwann im alten Bett des Ur-Amazonas einen neuen Weg zum Atlantik bahnen. Danach strömte der Riesenfluss also im gleichen Bett wie früher, aber in entgegengesetzter Richtung.

Als Carina Hoorn von der Amsterdamer Universität und ihre Kollegen im heutigen Mündungsdelta des Amazonas 4500 Meter in die Tiefe bohrten, fanden sie eine Grenzschicht, die 11,8 bis 11,3 Millionen Jahre alt ist. Oberhalb dieser Grenze sind Fossilien winziger Lebewesen eingebettet, die einst in den heutigen Anden zu Hause waren, unter dieser Grenze nicht, berichten die Forscher in der Zeitschrift „Geology“. Seit dieser Zeit fließt der Amazonas also von den Anden im Westen Südamerikas nach Osten zu seiner heutigen Mündung in den Atlantik. Noch immer leben im Oberlauf des Amazonas Delfine und Stachelrochen, die einst aus dem Pazifik kamen, als stumme Zeugen der dramatischen Umkehr des größten Stroms der Erde.

Kein anderer Fluss führt so viel Wasser

Fließrichtung Das Bett des Amazonas ist noch heute in der Nähe der Mündung in den Atlantik deutlich schmaler als wenige Tausend Kilometer weiter stromauf. Da ein Flussbett normalerweise flussabwärts breiter wird, ist das ein wichtiges Indiz dafür, dass der größte Strom der Erde einst in die entgegengesetzte Richtung floss.

Wassermassen 206 000 Kubikmeter Wasser – und damit den Inhalt von mehr als einer Million Badewannen – transportiert der Amazonas in jeder Sekunde in den Atlantik. Damit ist er mit Abstand der größte Fluss der Erde. Die Ströme auf den Plätzen zwei bis acht erreichen nicht einmal zusammen diese unvorstellbare Wassermenge. Im Rhein fließen keine 1,5 Prozent dieses Volumens.

Teilung Der Orinoko-Strom teilt sich weit nördlich vom Amazonas in zwei Arme. Einer davon fließt in die Karibik, während der andere zumindest zeitweise als Rio Negro in den Amazonas mündet. Nirgends sonst auf der Welt spaltet sich ein ähnlich großer Fluss so auf, dass er in zwei verschiedene Meere fließt. Vermutlich sieht man dort die letzten Überreste des einstigen Meeresarms und Sumpfgebiets, in dem der Ur-Amazonas einst seine Fließrichtung umkehrte.