Das Ergebnis der Bundestagswahl zwingt die Parteien zu Kompromissen. Wer sich vor dieser Verantwortung drückt, beschädigt das politische System der Republik, kommentiert StZ-Autor Michael Maurer.

Stuttgart - Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Dieser Satz des ersten SPD-Vorsitzenden der Nachkriegszeit, Kurt Schumacher, ist einer der am häufigsten zitierten Sätze auch noch in der aktuellen Politik, weil er unverändert Orientierung bietet. Offensichtlich aber nicht in der Nacht von Berlin, in der die FDP die Idee einer Jamaikakoalition beerdigt hat. Denn die Wirklichkeit bot, rein rational und nicht machttaktisch betrachtet, keinen zwingenden Anlass, dieses Experiment an dieser Stelle abzubrechen.

 

CDU, CSU, FDP und Grüne vertreten schon allein aufgrund ihrer Programmatik sehr unterschiedliche Positionen etwa in der Migrations-, Klima-, Finanz- oder Agrarpolitik. Dies sind wichtige politische Fragen, aber es sind keine Fragen, bei denen eine der Parteien ihr Grundsatzprogramm hätte ändern müssen, um zu einem Kompromiss zu kommen. Es ging schließlich nicht um die Abschaffung des Euro oder den Austritt aus der Nato.

Die Parteien sind kläglich gescheitert

Doch es gab weder genügend Vertrauen noch genügend Verantwortungsbewusstsein, um aus einer zugegeben schwierigen Ausgangsposition heraus einen tragfähigen Kompromiss zu finden. An der Aufgabe, aus dem Wahlergebnis vom 24. September eine Regierung zu bilden, der zwangsläufig keine große gemeinsame Idee zugrunde liegen kann, die sich aber an dem pragmatisch Machbaren und demokratisch Notwendigen orientiert, sind die Parteien kläglich gescheitert. Dies ist ein Armutszeugnis.

Die geplatzten Sondierungsgespräche hinterlassen deshalb am Ende nur Verlierer – ganz unabhängig davon, an wem der Schwarze Peter hängen bleibt. Angela Merkels Nimbus als gewiefte und erfolgreiche Verhandlungsführerin ist beschädigt; Horst Seehofer weiter geschwächt; die FDP muss wieder mit dem Etikett der Unzuverlässigkeit leben; die Grünen haben hoch gepokert, stehen aber erneut mit leeren Händen da. Den größten Schaden allerdings trägt das politische System dieser Republik davon. Sowohl von innen als auch von außen steht es in der Kritik, weil es undurchschaubar, ineffizient oder rein am Machtkalkül der Eliten orientiert sei. Diese Vorwürfe sind falsch, sie sind – wenn man die Ziele der Kritiker betrachtet – geradezu perfide. Doch die mangelnde Kompromissbereitschaft der Jamaikasondierer dürfte ihnen neuen Auftrieb verschaffen und bringt die Verteidiger des repräsentativen Systems unnötig weiter in die Defensive.

Gesinnungs- oder Verantwortungsethik?

Es ist bald 100 Jahre her, dass der Soziologe Max Weber in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ den Unterschied zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik thematisiert hat. Sein Rat an die Politiker war klar: Im Zweifel ist es wichtiger, Verantwortung zu übernehmen und dafür Kompromisse einzugehen als in der Opposition an ideologischen Grundsätzen festzuhalten. Dem ist auch im Jahr 2017 wenig hinzuzufügen.

Das politische System Deutschland ist nach dem Fehlschlag des Jamaikaquartetts in einer bisher nicht gekannten, schwierigen Lage – aber es ist deshalb noch lange nicht in einer existenziellen Krise. Sowohl die Bürger des Landes als auch die außenpolitischen Partner können eine (durchaus längere) Interimsphase aushalten. Die Voraussetzung dafür aber ist ein ehrliches Bemühen, die verbliebenen politischen Optionen – große Koalition oder auch Minderheitsregierung – allen berechtigten Vorbehalten zum Trotz ernsthaft zu prüfen. Eine Neuwahl wäre dagegen die endgültige Bankrotterklärung. Denn die Verantwortung des Wählers in einer repräsentativen Demokratie ist es, zur Wahl zu gehen und sein Kreuz zu machen. Die Verantwortung der Parteien ist es, dieses Votum in Regierungsbildung und -handeln umzusetzen. Wer diesem Auftrag nicht gerecht wird, fügt der Demokratie Schaden zu. Damit beginnt und damit endet das Betrachten der Wirklichkeit.