2016 war das Internationale UN-Jahr der Hülsenfrüchte. Vor allem Linsen sind Proteinbomben – ein Superfood, das seit der Steinzeit eine der Hauptnahrungsquellen der Menschheit ist. Ein Gespräch mit dem Archäobotaniker Manfred Rösch.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - 2016 war das Internationale UN-Jahr der Hülsenfrüchte. Vor allem Linsen sind Proteinbomben – ein Superfood, das seit der Steinzeit eine der Hauptnahrungsquellen der Menschheit ist. Von den ersten Bauern in der Steinzeit bis heute sind Linsen ein ständiger Begleiter der Menschen im heutigen Baden-Württemberg. Ohne die enorm nährstoff- und proteinreiche Hülsenfrucht ist die neolithische, keltische, alemannische und schwäbische Küche undenkbar.

 

Wir sprachen mit dem Archäobotaniker Manfred Rösch vom Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg über die historische Bedeutung der Linse für die Ernährung der Menschen im Südwesten:

Linsen – Proteinbombe und Superfood der Menschheitsgeschichte

Herr Professor Rösch, wie kam die Linse nach Baden-Württemberg? Hatten die ersten Bauern die Samen im Gepäck als sie vor rund 10.000 nach Mitteleuropa aufbrachen?
Die Linse wurde im Nahen Osten domestiziert. Sie kam mit der Landwirtschaft Schritt für Schritt in einem längeren Prozess vom Fruchtbaren Halbmond über die Türkei, Griechenland und den Balkan nach Mitteleuropa.
Wann begann der Linsenanbau im Südwesten?
In der Zeit der Linearbandkeramik in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrtausends v. Chr. Die ersten Bauern hatten die Linse mit in ihrem Repertoire. Wahrscheinlich war es so, dass Bauern auf dem Weg nach Europa sesshaft wurden und sich vermehrten. Die Bevölkerungszunahme führte zu Wanderungsbewegungen und zur Verbreitung der Linse. Möglich ist auch, dass die Immigranten eine mesolithische Vorbevölkerung antrafen, die als Jäger und Sammler im und mit dem Wald gelebt haben.
Brachten die frühen Bauern ihr Wissen mit, so dass sie gleich Linsen kultivieren konnten?
Sie kamen mit einem fertigen Konzept an, dass wahrscheinlich in Österreich und Ungarn während der Lengyel-Kultur entwickelt wurde. Das Kulturpflanzen-Repertoire der Bandkeramik umfasst nicht alles, was im Nahen Osten domestiziert worden ist. Es ist ein reduziertes Spektrum beim Getreide – Emmer und Einkorn – und bei den Hülsenfrüchten – Linse und Erbse. Hinzu kamen Lein und Schlafmohn.
Hängt dieses eingeschränkte Angebot mit den Böden und dem Klima im Südwesten zusammen?
Eigentlich wächst hier alles, auch Linsen. Es ist keine Frage des Klimas. Die Menschen der Frühzeit haben nicht alles gebraucht, was sie aus ihrer Heimat kannten. Ihr Anbausystem war so stabil, dass sie unter den gegebenen Boden- und Klimabedingungen mit den Einschränkungen bei der Nahrung gut klar gekommen sind.
Und trotzdem war die Nahrungsgrundlage vollwertig?
Natürlich. Einkorn und Emmer sind die hochwertigsten Getreidesorten. Hülsenfrüchte wie Linse, Erbse, Kichererbse oder Ackerbohne brauchen keine Düngung. Mit ihren Knöllchenbakterien holen sie sich ihren Stickstoff aus der Luft und können auch auf mageren Böden gedeihen. Einkorn und Emmer wurden in Mischkulturen angebaut. Bei den Leguminosen weiß man nicht, ob sie auf den Äckern mit Getreide oder eigens in Gärten angebaut wurden.
Wie wurden die Linsen zubereitet?
Von der Steinzeit bis zu den Römern und zum Mittelalter dürfte sich bei der Zubereitung nicht viel geändert haben. Die Menschen haben das Getreide meist als Brei gegessen. Die Herstellung von Brot ist sehr aufwendig. Man muss es entspelzen und mahlen. Wenn man dagegen Getreide wässert, lösen sich die Spelzen von alleine ab. Der Brei ergibt gekocht eine Art Risotto. Bei den Linsen machte man es genauso. Im Mittelalter gab es die sogenannte Linsen-Gerst. Linsen und Gerste wurden zusammen im Gemenge angebaut, gemeinsam geerntet und zu einem Brei weiterverarbeitet.
Gab es bevorzugte Linsensorten, die angebaut wurden?
Die Linsen, die man heute im Supermarkt kaufen kann, sind Riesendinger. Die Alb-Linsen dagegen sind relativ klein. Mir ist kein archäologischer Fund bekannt, der auf den Anbau großer Linsen in Baden-Württemberg schließen lässt. Noch im Mittelalter waren es kleine Linsen wie die französischen Du Puy Linsen oder rote Linsen.
Die Alb-Leisa kommt der Ur-Linse demnach am nächsten?
Auf jeden Fall näher als die herkömmlichen großen Linsen.
Heute isst man Linsen mit Speck, Zwiebeln und Gewürzen. War das in früheren Zeiten auch schon so?
Warum sollten die Leute früher nicht auch schmackhaft gekocht haben? Fleisch kam allerdings vor 200 und mehr Jahren in der bäuerlichen Gesellschaft nur selten auf den Tisch. Das lag schon an den fehlenden Kühlmöglichkeiten. Salz zur Konservierung war teuer. Auch Viehfutter war knapp. Heu konnte kaum gemacht werden, weil Mähwiesen ackerfähige Standorte waren, die dem Ackerbau und nicht dem Viehfutter vorbehalten waren. Bis ins 19. Jahrhundert gab es Waldweiden, wo die Tiere ganzjährig draußen waren.
War die Linse das verbindende Nahrungsmittel auf der Speisekarte im Südwesten?
Es war eine der Hauptnahrungsquellen, auch weil Fleisch nur bei der Schlachtung im Herbst anfiel. Bei der Eiweißversorgung waren die Menschen auf Hülsenfrüchte angewiesen. Als Einkorn und Emmer durch Roggen und Weizen abgelöst wurden, die zwar höher im Ertrag sind, aber weniger nährstoffreich waren, entstand eine Versorgungslücke. Proteinreiche Hülsenfrüchte wurden deshalb immer wichtiger.
Wie oft konnte geerntet werden?
Aufgrund der klimatischen Bedingungen wurden Linsen auf dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg erst im April ausgesät und ab Ende Juli geerntet. Zwei Ernten gibt es vielleicht im Jemen oder in Ägypten, wo es das Klima erlaubt, aber nicht auf der Schwäbischen Alb.
Wie wurden die Linsen konserviert?
Nach der Ernte, dem Dreschen und Entfernen der Hülsen kamen die Linsen in einen Topf, damit sie vor Ungeziefer sicher waren. Darin waren sie jahrelang haltbar, wenn sie gut getrocknet sind, damit sie nicht keimen und schimmeln. Eintopf-Gerichte waren deshalb angesagt, weil man in der Regel nur einen Topf hatte, in dem das Essen gekocht wurde. Vier-Gänge-Menü gab es nur bei reichen Leuten.

Zur Person

1952 geboren in Mühlacker

1973-1982 Studium der Biologie in Stuttgart, Hohenheim und Bern

Seit 1987 Referent für Archäobotanik des Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg und Leiter des Labors für Archäobotanik in Hemmenhofen

1993 Habilitation im Fach Botanik/Archäobotanik an der Universität Innsbruck

Seit 2005 außerplanmäßiger Professor am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Heidelberg mit Schwerpunkt Archäobotanik