Sie beherrschten nicht nur alle Arten des Folterns und Tötens, sondern kannten sich auch gut mit der menschlichen Anatomie aus. Wenn der Blinddarm schmerzte oder die Glieder weh taten, wussten die Scharfrichter Rat.

Heidelberg - Als Berufsgruppe waren die Henker und Scharfrichter einst alles andere als angesehen. Zum Wohnen wurden sie mit ihren Familien meist an den Rand der Stadt gedrängt; in Gaststätten mussten die Männer, die für das Foltern und die Vollstreckung schwerster Strafen zuständig waren – denen aber auch die Beseitigung von totem Vieh und andere im wahrsten Sinn des Wortes schmutzige Arbeiten übertragen waren – abseits sitzen. Selbst der Besuch von Gottesdiensten war ihnen oft nur eingeschränkt gestattet.

 

„In vielen Teilen Deutschlands galten die Henker und ihre Knechte als unehrlich, also als weitgehend ehrlos. Man hat den sozialen Kontakt mit ihnen gemieden“, erklärt Andreas Deutsch, der Leiter der Forschungsstelle Deutsches Rechtswörterbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. „Umso erstaunlicher erscheint es, dass sie fast überall auch als hervorragende Heiler galten“, schildert der Jurist. „In der Not suchten selbst vornehme Persönlichkeiten sie auf.“ Andreas Deutsch beschäftigt sich seit seinem Studium mit Scharfrichtern, Henkern und Folterknechten und hat schon mehrere Untersuchungen über sie veröffentlicht.

Die Mediziner studierten lieber Bücher als Körper

Um Verurteilte mit dem Schwert präzise zu enthaupten und kein Gemetzel anzurichten, um schwere Leibesstrafen, etwa das Abhacken von Händen und Fingern zu vollstrecken oder Nasen abschneiden und Ohren zu schlitzen, mussten sich die Scharfrichter mit der Lage von Gliedmaßen und mit dem Verlauf von Muskeln und Sehnen auskennen. Auch um lebensgefährliche Verletzungen bei der Folter zu vermeiden, waren anatomische Kenntnisse wichtig. Da seien die Henker zudem oft verpflichtet gewesen, die Geschundenen anschließend zu verarzten – und sei es auch nur, um ihre Prozessfähigkeit zu erhalten, schildert Deutsch.

All dies waren offenbar gute Voraussetzungen dafür, dass die gefürchteten Strafvollstrecker im Nebenerwerb zu Heilern wurden. Spätestens, wenn Ärzte nicht mehr weiterwussten oder sich vor Ansteckung fürchteten, suchten auch ehrbare Leute bei ihnen Hilfe.

Überliefert ist das Beispiel eines Bauernknechts aus Bubenorbis in Hohenlohe vom Beginn des 18. Jahrhunderts. In seinem Heimatdorf konnte ihm keiner mehr helfen. „Gequält von hohem Fieber und starken Schmerzen, wanderte der Mann zwölf Kilometer nach Schwäbisch Hall und ging direkten Wegs zum Scharfrichter Andreas Bürck“, schildert Deutsch. „Der schnitt den Knecht sogleich auf und entfernte erfolgreich seinen Blinddarm.“

Im Gegensatz zu weit verbreiteten Klischees seien die Henker in der Regel „nicht mit einer roten Kapuze und dem Beil auf der Schulter blutlüstern durch die Stadt gelaufen“, versichert der Heidelberger Wissenschaftler. „Manche von ihnen waren durchaus gebildete und belesene Männer.“ Vor allem aber waren sie weit besser mit der menschlichen Anatomie vertraut als viele, die sich hauptberuflich der Medizin verschrieben hatten. Während studierte Ärzte, die „Physici Ordinarii“, bis weit ins 16. Jahrhundert hinein „ihre Kenntnisse fast ausschließlich aus zumeist lateinischsprachigen Büchern antiker Autoren wie Hippokrates oder Galenus bezogen und praktisch anatomische Studien bei Ärzten noch verpönt waren“, wie Deutsch feststellt, sezierten Scharfrichter längst die Körper der Toten, um die Organe der Menschen besser kennenzulernen.

Manche Leiche durfte der Scharfrichter behalten

So hatte der Nürnberger Scharfrichter Frank Schmidt am 1. Juni 1581 nicht nur den Georg Presigel, der seine Frau erschlagen hatte, „mit dem Schwert gericht“, sondern anschließend auch „anadomiert und geschnitten“, wie er in seinem Tagebuch notierte. „Auch wenn in dem Zusammenhang von wissenschaftlichen Obduktionen nicht die Rede sein kann, gaben die Leichenöffnungen wichtige Impulse für die Kenntnis des menschlichen Körpers und seiner Gebrechen und vermittelten Informationen, die in keinem medizinischen Lehrbuch standen“, erklärt Deutsch.

Die Heilkunde wurde dabei, ebenso wie das Handwerk des Henkers, von Generation zu Generation in den Familien weitergegeben und die Ausbildung „mit großem Ernst betrieben“. Die Kaufbeuerer Scharfrichterfamilie Seitz habe über die Jahrzehnte 500 Rezepte notiert und ein umfangreiches Rezeptbuch hinterlassen.

Viele der Mittel haben die Scharfrichter auch selbst hergestellt. Für die aus heutiger Sicht skurrilsten lieferten die Leichen der Hingerichteten den „Rohstoff“. Denn nur die „ehrbar“ mit dem Schwert Enthaupteten durften die Familien anschließend bestatten. Wer gehenkt wurde, dessen Leichnam gehörte dem Henker. Die Fallsüchtigen erhofften sich Heilung vom frischen Blut der Getöteten, und das Pulver von Mumien galt als gutes Mittel zum Stillen von Blut. Am begehrtesten aber war das aus den Leichen der Hingerichteten gewonnene Menschenschmalz, das sogenannte Armsünderfett . Seine Heilwirkung war auch in der Schulmedizin anerkannt: „Zerlassen Menschen-Fett ist gut für lahme Glieder, so man sie darmit schmiert, sie werden richtig wieder“, reimte der kurpfälzische Hofmedikus Dr. Joachim Becher Mitte des 17. Jahrhunderts.

„Axungia Hominis“ war, wie einschlägige Listen bestätigen, „noch vor weniger als 200 Jahren ein in Deutschland übliches Medikament“, versichert Deutsch. Da allerdings hatte sich vielerorts schon die Wissenschaft der Hinrichtungsopfer bemächtigt. Im 16. Jahrhundert, als in Tübingen erstmals anatomische Kurse eingerichtet wurden, mussten die Studenten die Leichen noch beim Scharfrichter kaufen. Als 1745 der Mannheimer Kurfürst Carl-Theodor ein anatomisches Theater errichten ließ, mussten die Scharfrichter die Hingerichteten dort abliefern.

In der berühmten Heidelberger Scharfrichterfamilie Widmann erkannte man offenbar die Zeichen der Zeit. Einer der Söhne studierte Medizin und wurde 1810 Regimentsarzt. Sein Bruder Franz Wilhelm Widmann übernahm zwar noch das Amt des Vaters und ging 1820 als Scharfrichter des Kotzebue-Mörders Karl Ludwig Sand in die Annalen ein (siehe Bild), zuvor absolvierte er aber mit Erfolg die neu gegründete Tierarzneischule in Karlsruhe. Offiziell firmierte er nicht mehr als Henker, sondern als „Großherzoglicher Veterinair-Arzt“.