Vor 150 Jahren starben erstmals Menschen beim Einsturz eines Hauses nach einem Gasunfall. Viele Stuttgarter halfen, die Politik diskutierte, sogar ein Gesetz wurde geändert – doch die neue Technik wurde nicht in Frage gestellt.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Die Menschen in Stuttgart haben es als Katastrophe empfunden, sogar der König brach umgehend zur Unglücksstelle auf, später wurden Ansichten und Erlebnisberichte gedruckt und verkauft: Am Sonntagabend, dem 19. Februar 1865, stürzte kurz vor 18 Uhr ein Haus nahe der Leonhardskirche nach einer Explosion ein. Vier Menschen, darunter zwei Kinder, starben. Es war die erste Gasexplosion, die Stuttgart in seiner Geschichte erlebte, und die geistigen Erschütterungen reichten weit über das Leonhardsviertel hinaus.

 

Zu jenem Zeitpunkt war die Technik der Gasbeleuchtung in Stuttgart erst 20 Jahre alt. Im Jahr 1845 hatte das Gaswerk seinen Betrieb aufgenommen. Es stand in der Seidenstraße beim Hoppenlaufriedhof und produzierte Gas, das in einem aufwendigen Prozess durch Verbrennen von Steinkohle gewonnen wurde. König Wilhelm I. war nach einer Vorführung im Hoftheater so begeistert davon gewesen, dass er das Licht in allen seinen Gebäuden haben wollte; etwa 120 Abnehmer folgten umgehend seinem Beispiel.

Die helle Flamme scheint die Menschen fasziniert zu haben, denn zuvor konnte man Räume nur mit Öllampen oder eben Kerzen erhellen. Das Stuttgarter Tagblatt schrieb damals über das Gas, als sei Zauberei im Spiel: Bei einer Kerze „hat man doch einen Docht, der brennt, und das Fett oder Wachs gibt dem brennenden Docht seine Nahrung, aber bloß brennende Luft ohne Docht, wie ist das zu reimen?“

Gas wurde ab 1845 genutzt, aber nur für die Beleuchtung

Bald war auch die Königstraße mit Gaslampen beleuchtet – das Gas wurde zu einem Symbol des Fortschritts, ebenso wie die Eisenbahn, die vielleicht nicht zufällig ebenfalls 1845 erstmals von Untertürkheim nach Cannstatt fuhr. Allerdings diskutierte man auch damals schon über drohende, vor allem sittliche Nachteile, wie Ulrich Kett in seinem Buch über „Stuttgart und das Gas“ anmerkt. Man fürchtete nämlich, dass die Menschen wegen der neuen Beleuchtung abends länger arbeiten könnten und würden, statt „wie seither der Ruhe, der geselligen Erholung und der Lektüre zu obliegen“, so das Tagblatt 1845.

Dass Gas auch gefährlich sein konnte, war weniger Gegenstand der Debatte – vielleicht fuhr die Nachricht von dem Unglück im Jahr 1865 den Menschen deshalb so in alle Glieder. Wie sich später herausstellte, waren in diesem Februar durch den vorhergehenden Frost das Gasometer und ein Teil der Leitungen im Haus des Flaschners Heinrich Dietz in der Esslinger Straße 6 eingefroren. Beim erfolglosen Versuch, die Beleuchtung wieder in Gang zu bringen, hatte jemand den Haupthahn offen gelassen – als die Leitungen auftauten, strömte das Gas ungehindert in die Räume.

Vier Menschen kamen ums Leben, darunter zwei Kinder

Die Menschen hätten schon Stunden zuvor den Geruch wahrgenommen, schrieb die Schwäbische Chronik später. Aber die Technik war vielleicht noch so neu, dass sich niemand etwas dabei dachte. Später nahm die Frau des Hausbesitzers dann sogar ein Licht mit offener Flamme, um nach dem Rechten zu schauen. „Die Bewohner der dortigen Häuser sahen einen plötzlichen starken Lichtschein, dem unmittelbar ein gewaltiger Knall folgte“, vermeldete das Stuttgarter Tagblatt kurz darauf. Die vordere Mauer wurde bei der Explosion herausgedrückt, sodass das Haus teils in sich zusammenstürzte; es wurde am Montag und Dienstag vollends abgetragen.

Bürger in Aufruhr, die Versicherung will nicht zahlen

Die Ehefrau starb noch in den Trümmern. Auch ein fünfjähriges Kind, das zu Besuch war, zog man tot aus dem Schutt. Einem jungen Mann, der zufällig am Haus vorbeiging, „wurde der Schädel zerschmettert, sodass er nach kurzer Zeit eine Leiche war.“ Der 13-jährige Dietz’sche Sohn starb bald darauf im Krankenhaus.

König Karl kam am Montag erneut zur Unglücksstelle. Er spendete dem Vater und den drei überlebenden Kindern, die sich kurz vor der Explosion zu einem Spaziergang aufgemacht hatten, 200 Gulden. Die Abgeordnetenkammer diskutierte noch in der gleichen Woche über die Folgen der Explosion. Oberbürgermeister Heinrich von Sick rief die Stuttgarter zu Spenden auf. Für 15 Kreuzer konnte man zugunsten der betroffenen Familie eine Ansicht (siehe Bild) des zerstörten Hauses erwerben oder für drei Kreuzer den „wahrhaften Bericht“.

Die Versicherung wollte zunächst nichts bezahlen

Und es wurde das Gesetz geändert. Die Gebäudeversicherungsanstalt weigerte sich nämlich, zu zahlen, da Gasexplosionen nicht zu den abgedeckten Schäden gehören würden. Die Schwäbische Chronik empörte sich mächtig, Bürger kamen zu einer Versammlung zusammen und gründeten eine Art frühe Bürgerinitiative, die Politik wurde aktiv. Am Ende zahlte die Anstalt.

Grundsätzliche Bedenken der neuen Gastechnik gegenüber wurden in den Debatten dagegen nie geäußert. Der Fortschritt ließ sich nicht zurückdrehen. Immer mehr Menschen schlossen ihr Haus an das Gasnetz an, das lange noch ausschließlich der Beleuchtung diente. Dass man mit Gas auch Kochen und Heizen konnte, wurde erst um 1900 beliebter. Dann aber machte die Elektrizität dem Gas immer stärker Konkurrenz. Die letzte Straßenlaterne in Stuttgart, die mit Gas betrieben wurde, ging jedoch erst im Mai 1953 außer Betrieb.