Wer früher verreiste, war wirklich weg und nicht erreichbar. Die Errungenschaften der digitalen Welt haben das Reisen grundlegend verändert. Vieles wurde bequemer - aber ein Stück Seele ist verloren gegangen.

Es war das Jahr 1986. Sie kamen aus Norwegen zurück, sechs Wochen Lofoten, ohne Fernsehen, ohne Zeitungen, ohne Kontakt nach Hause. Die alte Fischerhütte hatten sie zufällig im Vorbeifahren entdeckt und billig gemietet. Zum Abschied hatte der Besitzer ihnen, seinen ersten Touristen, eine Walharpune geschenkt. Als sie in Travemünde die Fähre verließen und das Autoradio anschalteten, hörten sie, dass drei Tage zuvor Olof Palme erschossen worden war. In Schweden, nicht allzu weit entfernt. Europa befand sich in Aufruhr - und an ihnen war das alles spurlos vorübergegangen. Es klingt undenkbar heute.

 

Der Reisende des Jahres 2016 hat in langen Sitzungen alle Angebote von Ferienwohnungen studiert. Er hat sich durch Bewertungen früherer Gäste gewühlt, einen 360-Grad-Foto-Rundgang durch sein künftiges Domizil unternommen und für den ersten Abend übers Internet einen Tisch im Top-Restaurant gebucht. Seine wichtigste Frage lautete nicht: Wie sind die Angelmöglichkeiten? Sondern: Funktioniert das WLAN problemlos? Später, vor Ort, liefert „Spiegel Online“ die notwendige Dosis Tagesnews, E-Mails werden dreimal am Tag gecheckt, jeden zweiten Abend steht die Skype-Sitzung mit den Freunden zu Hause an. Und natürlich werden die Fotos vom Terrassenfrühstück mit Krabben und den ersten Moltebeeren regelmäßig mit allen Whatsapp-Lieben geteilt. „Ich bin dann mal weg“, und zwar radikal, gibt es nicht mehr. We stay connected, heißt die Devise - natürlich bleibt man in Verbindung. Man holt die Welt nach Hause, und das Zuhause nimmt man mit in die Welt. Kein Zweifel: Die Attribute des digitalen Universums haben das Reisen einfacher, bequemer und demokratischer gemacht.

Wie war das Reisen früher?

Früher war mehr Risiko beim Hinausgehen in die Welt - aber auch mehr Zauber und mehr Wundertüte. Der Flug, die Fähre, die Bahnfahrt markierten eine Grenze: die zwischen dem heimisch Vertrauten und den weiten, offenen Räumen, in denen alles möglich schien. Man musste sich einlassen auf Unterkünfte, die man nur aus Zeitungsanzeigen oder Katalogen kannte - oder darauf vertrauen, welche am Weg zu finden. Zug- oder Busfahrten außerhalb Europas vorab zu organisieren, war fast unmöglich. Kundenfreundlich war das alles nicht. Hatte man Pech, landete man in einem zugigen Dreckloch in Mérida. Meinte der Reisegott es gut mit einem, stieß man auf den Orkney-Inseln auf eine einsame Steinhütte, in der man abends am Torffeuer Whisky trank und den Nebel vor dem Fenster hochsteigen sah. Die Adresse wurde von Mund zu Mund weitergegeben und noch nicht als Geheimtipp durch sämtliche elektronischen Communities gejagt.

Vor Ort gönnte man sich den Luxus, nicht erreichbar zu sein. Telefonieren war teuer und in vielen Regionen nur auf dem Postamt möglich. Im Kopf sammelte sich ein Stapel Fragen, der von Tag zu Tag größer wurde und die sich noch nicht stante pede per Google beantworten ließen: Schlafen Seeschlangen schwebend? Rechnet sich das Verschiffen getrockneter Dorschköpfe von Norwegen nach Afrika? Wie wurde wohl Majolika-Keramik erfunden?Die Rückkehr nach Hause aber wurde zum Fest. Die Post mehrerer Wochen wartete ungeöffnet. Freunde, nicht durch Fotohäppchen auf dem Laufenden gehalten, hofften, verblüffende Geschichten zu erfahren. Übersprudelnd erzählten die, die „draußen“ gewesen waren, und sie sollten und wollten gar nicht mehr aufhören. Ein paar Tage später kamen dann die entwickelten Dias aus dem Labor. Die aufgeregte erste Durchsicht. Dieses Glück, die letzten Wochen noch einmal nachzuerleben.

Der Einfluss der digitalen Welt

Heute sind die Fotos längst vorausgereist, die Postkarte mit dem Selfie wurde im Internet in Auftrag gegeben, die ganze Aufregung mit der wunderbaren Fischplatte und das nächtliche Erbrechen hinterher hat man schon am nächsten Morgen per Skype Happen für Happen durchdiskutiert. Ach ja? Und trauert irgendwer dieser Welt von damals hinterher - außer ein paar technikfeindlichen Digital Natives, die es einfach nicht auf die Reihe kriegen, ihren Laptop virenfrei zu halten? Auch der Autor dieser Zeilen ist alles andere als ein verbitterter Festplattenstürmer. Auch er hat sein Handy auf Reisen dabei, ist genervt von deutschen Hotels, die immer noch für WLAN-Nutzung abkassieren, ruft täglich seine E-Mails ab. Wer fände es denn nicht praktisch, erreichbar zu sein, wenn die Tante kränkelt oder der Kollege den wichtigen Beitrag verlegt hat. Keine zerfledderten Stadtpläne mehr wälzen! Aus Tausenden von Songs seine Lieblingsmusik wählen, ohne dass die Kassette zerbröselt! Dank einer kleinen, elektronischen Besserwisserin auf der Windschutzscheibe durch den Pariser Feierabend-Verkehr navigieren - wie großartig ist das denn alles!

Alles gut also - wäre das Reisen dank der elektronischen Hilfsmittel nicht nur entspannter, sondern auch seelenloser geworden. Der technische Fortschritt wächst, und etwas Wichtiges verschwindet: das Unverständliche. Der Glücksschrei. Die Ratlosigkeit. Die Unbehaustheit. Verloren geht das Herz des Reisens. Samarkand, Chichicastenango - selbst große Namen verlieren ihren Zauber, wenn die Bilder davon weltweit abrufbar sind. Warum noch hinfahren, wenn man sich Medresen, Osterprozessionen und Bisonherden per Internet ins Haus holen kann? Am Ende wartet die Enttäuschung: Das also ist Patagonien - tja, fast so gelungen wie auf den Fotos. Also ist dies am Ende doch nur die kauzige Kulturkritik eines verqueren Romantikers geworden, der vielleicht die Welt liebt, sich aber mit Apps nicht richtig auskennt? Ach was. Er genießt die Vorteile der digitalen Welt. Punkt. Aber eine kleine, unzeitgemäße Verweigerung gönnt er sich. Vor einer Reise an ein ihm unbekanntes Ziel hütet er sich ängstlich, einschlägige Fotoblogs oder Magazine anzusehen. Das Recht des jungfräulichen Blicks, das Glück des ersten Rundumschauens im Land selbst - darauf besteht er weiterhin eifersüchtig. Eine winzige Widerborstigkeit gegen den unaufhaltsamen Lauf der Zeit. Und ein wenig rumgranteln wird man ja wohl auch noch dürfen.