Das neue Stadtmuseum erzählt Stuttgarts Geschichte auch durch die Augen seiner Bewohner. Jeder kann sich beteiligen und für den Blog "Stuttgart neu erzählt" Anekdoten aus der Stadt, über die Stadt verraten.

Stuttgart - Es rumort und rattert. Der Geruch von frisch gesägtem Holz liegt in der Luft, emsig huschen Handwerker hin und her. Das Innere der ehemaligen Stadtbibliothek ist eine große Baustelle, die bei aller Unordnung schon jetzt hell, freundlich und vor allen sonnendurchflutet wirkt. Hier, wo früher Bibliothekarinnen über abertausende Bücher wachten und streng über die Ränder ihrer Brillen hinweg zur Ruhe mahnten, erwächst das künftige Stadtmuseum, ein Ort, an dem ab Ende 2017 die Geschichte Stuttgarts erlebbar und begehbar sein wird.

 

Es ist kein Museum wie jedes andere, das ist schon jetzt klar. Große Fenster statt hermetisch abgeriegelte Räume, ein ausladender Balkon, viel Raum zum Atmen und Betrachten. Primäre Funktion ist auch hier die Vermittlung von Wissen und die Visualisierung von Geschichte anhand von Objekten. Auch als Abgrenzung zu den anderen Institutionen (Landesmuseum, Haus der Geschichte, Linden-Museum…) steht hier aber nicht das passive Aufzeigen von Zusammenhängen im Vordergrund. „Klassischerweise sammeln Museen Objekte. Entscheidend ist für uns im Stadtmuseum dabei aber nicht der materielle oder künstlerische Wert eines Objektes, sondern die Geschichte, die es über die Stadt erzählt“, erfahren wir von Vesna Babić bei einem Rundgang durch die Baustelle. Wir stehen im künftigen Foyer, wo es später unter anderem ein Café und einen Veranstaltungsraum geben soll. Aus einem Bauarbeiterradio tönt „Love is a Battlefield“.

Geschichte passiert ständig

Von einem Schlachtfeld ist die Baustelle weit entfernt. Obwohl noch viel zu tun ist, bewegt man sich noch im zeitlichen Rahmen. Objekte wird es auch hier künftig zu sehen geben. Aber eben nicht „angefangen bei der ersten Tonscherbe und dann in chronologischer Reihenfolge“, betont Babić, die im Stadtmuseum für Marketing und Kommunikation zuständig ist. „Nicht jede Geschichte versteckt sich in einem Exponat“, fährt sie fort, „Stadtgeschichten sind die Geschichten der Menschen, die hier leben.“ Das gab den Ausschlag zu dem Projekt „Stuttgart neu erzählt“. Stadtgeschichte findet nicht nur in Geschichtsbüchern statt, sie beginnt genau hier, unter uns, im Alltag. Deswegen sammelt das Museum seit einiger Zeit Anekdoten, Erinnerungen und Geschichten von Stuttgartern, allgemeine oder ganz private Dinge, die sie mit dieser Stadt verbinden. „Diese vielfältigen und unterschiedlichen Geschichten wollen wir erfahren, sammeln und in die Ausstellung einbinden.“

Im ersten Stock des Museums wird es neben einem riesigen Stuttgart-Modell (Babić: „Den Flughafen haben wir einfach noch in die Stadtgrenzen gschmuggelt“) zwei Themenbereiche geben, die sich mit dem 19. und 20. Jahrhundert auseinandersetzen. Insbesondere letzterer Raum wird auch mit den ganz persönlichen Stuttgart-Geschichten der Bewohner bespielt. „Dafür haben wir zusammen mit der MFG Innovationsagentur Baden-Württemberg dieses Projekt entwickelt, mit dem wir persönliche Stuttgart-Geschichten aus der Vergangenheit bis ins Heute hinein sammeln und teilen wollen.“ 70 Jahre Stuttgart, neu und ungewöhnlich erzählt.

Du und deine Stadt

Mitmachen kann jeder. Die Online-Plattform „Stuttgart neu erzählt“ erlaubt es jedem, sich einzubringen. „Ob alt oder jung, ob neu zugezogen oder schon seit Generationen hier in der Stadt verwurzelt – jeden verbindet eine persönliche Geschichte mit der Stadt und diese Geschichten können auf der neuen Plattform geteilt werden.“ Daneben wird es Kernpunkte der Stuttgarter Geschichte geben: Der RAF, aber auch dem Fußball werden eigene Bereiche gewidmet. Unter den bislang gesammelten Geschichten sind für Christine Eiche schon einige Glanzlichter dabei. „Der Beitrag über den Stadtteil-Bauernhof Bad Cannstatt ist ein gutes Beispiel für das, was wir erreichen wollen“, sagt die Historikerin, die seit Sommer 2016 als wissenschaftliche Volontärin an der Ausstellungsplanung und am Sammlungsaufbau beteiligt ist. „Da steckt nicht nur ein Stück Nachkriegs-, Stadtteil- und Urbanisierungsgeschichte drin, sondern vor allem eine Geschichte über bürgerschaftliches Engagement, alternatives Leben und pädagogische Konzepte abseits der staatlichen Kitas und Kindergärten im Hier und Jetzt.“

Mehr als Feinstaub?

Insbesondere in einer Stadt wie Stuttgart, in der Bürgerbeteiligung hoch im Kurs steht, wolle man die Menschen gezielt in den Ort integrieren. „Solche Storys werfen ja auch einen Blick in die Zukunft. Wie“, fragt Eiche, „wollen wir leben, wie unsere Stadt gestalten? Geschichte passiert nicht losgelöst vom Menschen.“ Geschichte ist vor allem mehr als Feinstaub und Autoindustrie, auch wenn das auf einen ersten distanzierten Blick so wirken mag. Deswegen setzt das junge Museumsteam (kaum einer ist aktuell über 40, selbst der neue Direktor Dr. Torben Giese nicht) ganz gezielt auf den Ansatz der Partizipation. „Die Deutungshoheit lag früher meist ausschließlich bei den Museumsmachern, den Kuratoren und Wissenschaftlern“, so Babić. Die sollen natürlich nicht außen vor gelassen werden, letztlich sind die Stadtgeschichten auch nur ein Teil der Vermittlung.

Bill Haley, die Queen, der VfB

Aber eben ein besonders spannender: Wer war live dabei, als die Queen 1965 in der Stadt war? Wer jubelte im Stadion, als der VfB 1992 Meister wurde? Und gibt es jemanden, der sich an den Auftritt von Bill Hayley 1958 erinnert? Wir stehen auf dem Balkon. Hinter uns die Baustelle, zu unseren Füßen eine Stadt im Aufbruch. Auch das, was hier gerade geschieht, ist Stuttgarter Geschichte. Jeder von uns erlebt sie anders, jedem von uns sind andere Dinge wichtig. „Wir wollen keine Meistererzählung, kein großes Narrativ“, betont Eiche dann auch. „Dafür sind wir gerne bereit, ein Stück unserer Deutungshoheit als Museum abzugeben. Jede Erinnerung, die ein Licht auf Stuttgart und seine Bewohner wirft, ist für uns gleich wichtig.“

Ambulanter Supermarkt

Auch Eiche hat eine ganz persönliche Anekdote aus der Stadt. „Durch dieses Projekt habe ich ganz zufällig einen der Helden meiner Kindheit wiedergetroffen“, meint sie versonnen. „Herr Volk, der über Jahrzehnte von Stuttgart Ost aus mit seinem „ambulanten Supermarkt“ die Wohngebiete versorgt hat. Ich bin in Degerloch aufgewachsen und immer montags und mittwochs hat bei uns in der Straße das Klingelauto gehalten, wie der fahrende Supermarkt bei uns hieß. Meistens bin ich dann die Straße vorgerannt und eine Station mit Herrn Volk mitgefahren. Damals habe ich gar nicht gewusst, wie einzigartig das Klingelauto ist. Tatsächlich hat schon sein Vater in den Fünfzigern mit einer Spezialanfertigung Milch und Lebensmittel aus dem Wagen heraus verkauft und bis 2001 ist Werner Volk täglich die Runde durch die Stuttgarter Wohngebiete gefahren. Meine Geschwister waren ganz schön neidisch, dass ich ihn wiedergetroffen habe. Und ja“, grinst sie, „die Story darüber ist in der Mache und wird in Kürze auf unserer Plattform online zu sehen sein.“ Wie viele andere Geschichten hoffentlich auch.