Von der Gestapo-Zentrale über den Massenmörder bis zu judenfeindlichen Entscheidungen im Rathaus: 16 Tafeln mit Texten und Bildern dokumentieren anschaulich Orte in Tübingen mit einem Bezug zur Nazi-Herrschaft.

Tübingen - Tübingen war eine Hochburg des Nationalosozialismus.“ Martin Ulmer, der Leiter der Tübinger Geschichtswerkstatt, wiederholt diesen Satz mehrfach beim Besuch einiger Stationen des Geschichtspfades, der dieses Thema aufgreift. „Dass dies so war, wissen auch viele Tübinger nicht mehr, sie sehen nur die heutige, weltoffene Stadt“, setzt Ulmer hinzu, der wie Ulrike Baumgärtner zu den jenen gehört, die die Geschichtswerkstatt 1984 gegründet haben. Seit Jahren arbeitet die Werkstatt daran, die dunklen Seiten der Tübinger Geschichte im Stadtbild sichtbar zu machen.

 

Jetzt informieren 16 Stehlen im Stadtgebiet über Orte, die zwischen 1933 und 1945 im Zusammenhang mit dem Nationalsozialmus standen. „Es ist der erste Geschichtspfad im Land zu diesem Thema“, sagt Ulrike Baumgärtner und sieht ihn als ein Angebot, das viele Leute erreicht: „Niemand muss in ein Museum gehen, um sich zu informieren.“ Martin Ulmer hat bereits beobachtet, wie Menschen vor den Stelen nicht nur stehen bleiben, „vor allem Jüngere fotografieren die Texte“.

Außenstelle der Stuttgarter Gestapo-Zentrale

Zum Beispiel jenen vor der Münzgasse 13. Das stattliche Haus direkt gegenüber dem Stiftskirchenportal war von 1936 an Sitz der Tübinger Polizeidirektion samt einer Außenstelle der Stuttgarter Gestapo-Zentrale im Hotel Silber. In Tübingen organisierten von der Münzgasse 13 aus sieben Mitarbeiter die Verfolgung von politischen Gegnern, kirchlichen Oppositionellen, Juden, Sinti, Zwangsarbeitern, Homosexuellen und sogenannten Asozialen.

Die Mitarbeiter seien für die Region weit über Tübingen hinaus zuständig gewesen, ergänzt Ulmer, sie hätten sich daher vieler Denunzianten bedient. Die Kopie einer Transportliste weist drei Namen von Tübinger Juden auf, die im Dezember 1941 nach Riga deportiert werden sollten. Ein Name ist durchgestrichen. Der Polizeichef hatte Elfriede Spiro von der Liste genommen. Er wusste, dass sie krank war. „Das zeigt den Handlungsspielraum auf, den es durchaus gab“, sagt Ulmer. Dass solche Listen im Stadtarchiv aufbewahrt wurden, nennt Ulrike Baumgärtner einen „außergewöhnlichen Glücksfall“. Das Haus Münzgasse 13 hat sich äußerlich während der vergangenen Jahrzehnte kaum verändert. Doch erst jetzt weist ein gut sichtbarer Text auf die Arbeit der Gestapo hin.

Kaum mehr als 100 Meter unterhalb der Stiftskirche, in der Bursagasse 18, wurde im Jahr 1913 Theodor Dannecker geboren. „Die rechte Hand von Eichmann“ nennt Ulmer den Mann, der die Deportation von rund 476 000 Juden in die Vernichtungslager im Osten organisiert hat. „Diese Erkenntnis berührt auch viele Tübinger, sie rechnen nicht damit, dass ein Massenmörder wie Dannecker mitten aus ihrer Stadt kommt“, hält Ulmer fest,

Erste Freibadverbot für Juden in Deutschland

Die Geschichtswerkstatt sieht den Pfad als eine Art Dauerausstellung, die Spuren der Täter und der Opfer präsentiert. So wurde die heutige Jugendherberge am Neckar 1934 für die Hitlerjugend errichtet. Im Rathaus musste sich am 31. März 1933 der demokratisch gewählte Tübinger Gemeinderat auflösen. Oberbürgermeister Adolf Scheef ließ im Mai 1933 das erste Freibadverbot für Juden in Deutschland beschließen. Und in der Tübinger Universität bekannten schon 1933 zahlreiche Professoren und Dozenten ihre Treue zur Nazi-Regierung. Studierende hissten die Hakenkreuzfahne auf der Neuen Aula.

Tübingen eine Hochburg des Nationalsozialismus? Martin Ulmer untermauert seine These mit Zahlen. Bei der Reichstagswahl 1933 wählten 62 Prozent der Tübinger die neuen Machthaber, deutschlandweit waren es 44 Prozent, in Stuttgart noch weniger. „Tübingen belegte fast immer einen Spitzenplatz bei den NSDAP-Stimmenanteilen“, sagt Ulmer. Mehr als ein Dutzend bedeutender NS-Täter seien aus Tübingen gekommen oder hätten hier studiert.

Der Geschichtspfad soll dazu beitragen, dass ein zusammenhängendes Geschichtsbild zur Rolle Tübingens in der NS-Zeit entsteht. Die Stelen sind in keiner bestimmten Reihenfolge angeordnet. Der Pfad kann somit überall begonnen werden. Viele Tübinger und Touristen bleiben zufällig stehen und erweitern dabei ihr Wissen über Tübingen um ein Kapitel.

Der Weg zum Pfad

Geschichtspfad:
Die Initiative dazu ging von der Geschichtswerkstatt Tübingen aus. 2010 begann eine Arbeitsgruppe mit dem Projekt. Es gehörten Mitglieder der Geschichtswerkstatt, des Arbeitskreises Uni Tübingen im Nationalsozialismus, Jugendguides sowie Mitglieder des Jugendgemeinderats und des Fachbereichs Kunst und Kultur der Stadt dazu.

Standorte:
Ein Plan mit den Stationen des Geschichtspfads findet sich im Netz unter www.tuebingen.de/ns_geschichtspfad. Über einen QR-Code können die Infos abgerufen werden. Die Texte gibt es auch auf Englisch.