Wer wird Deutschland künftig regieren? Das wird in Gesprächen ausgelotet, die am Mittwoch beginnen: Sondierungsrunden, danach Koalitionsverhandlungen. Wie geht das eigentlich?

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Friedrich-Ebert-Platz Nummer 2: Diese Berliner Adresse wird von Mittwoch an von Reportern, Fotografen und Kameraleuten belagert sein. Dort befindet sich vorerst das Zentrum der Republik, weil in dem Haus ausgelotet werden soll, ob CDU und CSU, Grüne und Liberale ein Fundament für eine gemeinsame Regierung finden.

 

Friedrich-Ebert-Platz Nummer 2: Das ist der neutralste Ort im Parlamentsviertel. In dem Haus mit der Sandsteinfassade residierten einst die Präsidenten des Reichstags. Mittlerweile hat dort der bedeutendste Club der politischen Szene seinen Sitz: die Parlamentarische Gesellschaft. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid nannte das einmal „so etwas wie einen Stammtisch“ der bundesrepublikanischen Politik.

Seit Angela Merkel über kanzlerfähige Mehrheiten verfügt, pflegt sie in der Parlamentarischen Gesellschaft auszukundschaften, mit wem sie regieren könnte. Nun finden dort zum vierten Mal Sondierungsgespräche statt. Das hat man sich nicht wie eine schlichte Kaminrunde vorzustellen. Es werden wohl die aufwendigsten Vorverhandlungen, die es je gab.

Keine formalen Regelen beim Ringen um die Macht

Allein die Union rückt mit einem Team an, das mehr Köpfe zählt als Jogi Löws WM-Kader: Merkel kommt mit 17 CDU-Kollegen, CSU-Chef Horst Seehofer bringt zehn Parlamentäre aus Bayern mit. Die Grünen werden von 14 Leuten vertreten. Nur die FDP begnügt sich mit einer Minidelegation: Die Liberalen sondieren zu viert. Demnach werden sich in der abschließenden Runde am Freitag, bei der alle vier potenziellen Koalitionspartner aufeinandertreffen, 47 Sondierer gegenüber sitzen – mehr denn je. 2013 waren es 21, 2005 gar nur vier.Das Ringen um die Macht folgt keinen formalen Regeln. Die werden jedes Mal neu ausdiskutiert. Die wesentlichen Entscheidungen fallen nicht in großen Runden, sondern meist im kleinen Kreis der Parteichefs. Dennoch ist die Frage, wer mitverhandeln darf, wichtig für die interne Hierarchie der künftigen Koalition sowie der beteiligten Parteien – und für die Balance unter deren Flügeln.

Während Sondierungsrunden noch halbwegs überschaubar sind, werden die anschließenden Koalitionsverhandlungen zu einem noch viel diffizileren Manöver auf verschiedenen Ebenen. 2005 verhandelten insgesamt 32 führende Köpfe von Union und SPD über das gemeinsame Regierungsprogramm. 2013 bei der zweiten großen Koalition unter Merkel waren es schon 77. Dazu kamen zwölf Facharbeitsgruppen mit jeweils zwölf bis 20 Bundestagsabgeordneten. Am Werden des Koalitionsvertrags waren folglich mehr als 200 Personen beteiligt.

Keine zeitlichen Vorgaben für Regierungsbildung

Drei Wochen sind seit der Wahl nun schon ins Land gegangen. Der neu gewählte Bundestag tritt am 24. Oktober erstmals zusammen – 30 Tage nach der Wahl. Dieses Limit schreibt das Grundgesetz vor. Für die Regierungsbildung gibt es keine zeitlichen Vorgaben. Beim letzten Mal vergingen 86 Tage vom Wahlsonntag bis zu dem Termin kurz vor Weihnachten, bei dem Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt wurde. Das war Rekord. Länger hatte es zuvor niemals gedauert. Die fast vierteljährliche Verzugsfrist war unter anderem dem Umstand geschuldet, dass die SPD den Koalitionsvertrag ihren Parteimitgliedern vorlegen wollte. Mit solchen basisdemokratischen Verzögerungen ist auch dieses Mal zu rechnen. Die Formation einer neuen Regierung ist ein langwieriger und zäher Prozess – das muss allerdings nicht immer so sein. 1969 verständigten sich SPD und FDP binnen 24 Tagen auf eine Koalition, welche die regierungsgewohnte Union in die Opposition verbannte. 1983 waren sich FDP und Union unter Helmut Kohl ebenso schnell handelseinig. In beiden Fällen ging es um eine politische Kurswende – den Beginn einer neuen Ära.

Sozialdemokraten und Grüne haben sich 1998 und 2002 aber auch sehr beeilt beim Austüfteln ihrer Koalitionsverträge. Sie benötigten vom Wahlsonntag bis zum Kanzlereid jeweils 30 Tage. Die eigentlichen Koalitionsverhandlungen gehen manchmal noch schneller über die Bühne. So benötigte Altkanzler Kohl 1983 und 1987 stets nur fünf Verhandlungstage, um sich mit der FDP zu verständigen.

Koalitionsverhandlungen seien „ein komplexer Sondierungs-, Überzeugungs- und Verhandlungsprozess. Es braucht weniger Aschenbecher und Rotweinflaschen als 1969, dafür aber mehr Arbeitsgruppen“, sagt einer, der an entscheidender Stelle mitverhandelt hat: Kajo Wasserhövel, 2005 Wahlkampfmanager der SPD, engster Vertrauter des damaligen Parteichefs Franz Müntefering. Je nach dem Grad des Vertrauens innerhalb und zwischen den Koalitionspartnern in spe seien die Gesprächsgremien „komplexer oder schlanker“ besetzt. „Ist eine Parteiführung fest im Sattel, sind die Sondierungsgruppen normalerweise kleiner.“ Daraus ließen sich durchaus Rückschlüsse auf die Rolle Merkels in der Union ziehen. Das eigentliche Verhandlungsgremium, so Wasserhövel, „ist kein Ort der Verhandlung“ – eher des Schaulaufens. Dort würden (öffentlichkeitswirksam dank vertraulicher Hinweise an Journalisten) nur die großen Linien abgesteckt und strittige Themen getestet. Was den Verlauf der Verhandlungen angeht, so prägte Merkel 2013 ein anschauliches Bild: Koalitionsgespräche seien wie eine Blumenvase. Erst gingen sie in die Breite. Zuletzt sei es die Kunst, sie wieder zu einem schönen Abschluss zusammenzuführen.