Immer weniger Familien singen zusammen unter dem Weihnachtsbaum. Dabei hat der gemeinschaftliche Gesang vielfältige positive Effekte für Jung und Alt. Forscher wissen: singen macht glücklich und fit.

Stuttgart - Alle Jahre wieder spielen die Radiosender pünktlich zum Verkauf von Lebkuchen und Zimtsternen „Last Christmas“ von Wham hoch und runter – bis zur Schmerzgrenze. Dabei geht es in der Schnulze nicht einmal um Weihnachten, sondern um eine gescheiterte Liebesbeziehung. Der Song scheint dennoch nicht aus der Mode zu kommen, ganz im Gegensatz zu den traditionellen deutschen Weihnachtsliedern. Während sich früher die Familie generationenübergreifend im weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer zum gemeinsamen Singen verabredete, ist dies heute oft nicht mehr der Fall. 60 Prozent der Deutschen singen keine Weihnachtslieder mehr. Das ergab eine Umfrage des YouGov-Meinungsforschungsinstituts für die Deutsche Presse-Agentur.

 

Das Singen unter dem Tannenbaum verschwindet also zunehmend aus den deutschen Wohnzimmern. Stattdessen sorgen Lieder aus der Konserve für ein besinnliches Hintergrundrauschen. Kinder freuen sich allenfalls an Rolf Zuckowski, Nena und Popvarianten von „Oh Tannenbaum“ und „Stille Nacht“ beim Plätzchenessen und Geschenkeauspacken.

67 Prozent meinen, sie können nicht singen

Die meisten Singmuffel schämen sich schlichtweg, so lautet das Ergebnis einer Umfrage der Marktforscher von Ears and Eyes aus 2008. 67 Prozent der Deutschen meinen, sie könnten nicht singen. Dass es darauf nicht ankommt, belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien der vergangenen Jahre. Ihr Tenor: nach anfänglichen Startschwierigkeiten stimmten sich die Sänger schnell aufeinander ein. Vor allem Kirchenchorsänger berichteten vom beglückenden Gemeinschaftsgefühl beim Singen.

Der Wiener Kommunikations- und Musikpsychologe Thomas Biegl bestätigte in seiner Untersuchung, dass das gemeinsame Singen vielfältige positive Effekte auf die Gesundheit hat. Er beobachtete, dass sich bereits nach kurzer Zeit der Hormonspiegel im Körper der Sänger veränderte (siehe Zusatzinfos). Beim Anstimmen der Weihnachtslieder werden demnach Serotonin, Noradrenalin, Dopamin, Oxytocin und Endorphine ausgeschüttet. Dieser Hormoncocktail verursacht ein Harmonie- und Zufriedenheitsgefühl.

„Wenn man mit Freude singt und immer dann, wenn uns etwas unter die Haut geht, werden die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert. Dort liegen Nervenzellen, die lange Fortsätze haben, die wiederum in alle anderen Bereiche des Gehirns ziehen. An den Enden dieser Fortsätze wird ein Cocktail von neuroplastischen Botenstoffen ausgeschüttet“, erklärt der Neurobiologe Gerald Hüther von der Universitätsmedizin Göttingen. Zugleich wird beim Singen aber auch der Testosteron- sowie Cortisolspiegel gesenkt – Stress und Aggressionen werden abgebaut. „Wenn Kinder Angst haben, etwa wenn sie in den Keller gehen oder durch den finsteren Wald laufen, dann singen sie, weil es sie beruhigt“, sagt Gerald Hüther. Mit Liedern versuchten sich beispielsweise auch 2010 die verschütteten Bergleute in Chile von ihrer verzweifelten Lage in 700 Meter Tiefe abzulenken.

Regelmäßiges Trällern stärkt Immunabwehr

Wer nicht nur Weihnachten aktiv singt, der tut seinem Körper dauerhaft etwas Gutes, denn Singen hat laut Gesundheitsexperten einen ähnlichen Effekt wie Fitnesstraining. Beim Singen atmen Menschen langsamer und tiefer, ihr Zwerchfell wird aktiviert, die Bauchorgane werden massiert. So werden Herz und Kreislauf gestärkt, und der Körper wird insgesamt besser mit Sauerstoff versorgt. Zehn bis 15 Minuten täglich reichen Experten zufolge bereits aus, um einen positiven Effekt auf das Herz-Kreislauf-System zu erlangen.

Wer regelmäßig das hohe C trällert, der hat auch ein stärkeres Immunsystem – das fanden Forscher vom Institut für Musikpädagogik der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt 2004 heraus. Die Wissenschaftler untersuchten die Speichelproben von Kirchenchormitgliedern, die das „Requiem“ von Mozart sangen. Dabei stellten sie fest, dass nach der Chorprobe die Anzahl der Immunglobuline A, die in den Schleimhäuten sitzen und Krankheitserreger bekämpfen, stark gestiegen war. Hörten die Mitglieder dagegen das Requiem nur vom Band, blieb die Anzahl der Antikörper unverändert.

Singen ist wie Fitness-Training

Bereits in den neunziger Jahren fanden schwedische Forscher heraus, dass das Gemeinschaftssingen sogar einen lebensverlängernden Einfluss hat. 12 000 Menschen aller Altersgruppen untersuchten die Forscher und kamen zu dem Schluss, dass Mitglieder von Chören und Gesangsgruppen eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als Menschen, die nicht singen. Und Eltern, die gemeinsam mit ihrem Nachwuchs singen, fördern zudem dessen Gehirnentwicklung. Das belegt eine Studie der Universität Münster aus dem Jahr 2010. Gemeinsam mit dem Gesundheitsamt Münster fand der Musikpsychologe Karl Adamek heraus, dass Singen sogar einen maßgeblichen Einfluss auf die Sprachentwicklung und das Sozial- und Aggressionsverhalten der Kinder hat.

Die Studie unter 500 Sechsjährigen ergab, dass Kinder, die zu Hause viel singen, zu 88 Prozent regelschulfähig sind. Wenigsinger waren nur zu 44 Prozent regelschulfähig, unabhängig von der sozialen Schicht. Das Fazit: da beim Singen Synapsen im Gehirn neu verbunden werden, macht es den Sänger schlauer. „Wer seine Singfähigkeit in der Kindheit entfalten konnte, der kann diese Effekte später über den ganzen Lebensbogen bis ins Alter nutzen. Denn Singen fördert in jeder Lebensphase die Potenzialentfaltung des Gehirns“, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther. Gerade ältere oder auch an Demenz erkrankte Menschen können sich noch gut an Lieder aus ihrer Kindheit erinnern, weil sie mit positiven Emotionen verbunden sind. Auch das belegt die YouGov-Umfrage: Jeder zweite Senior hört Kindern gerne beim Anstimmen von Weihnachtsliedern zu.

Grund genug, sich heute Abend unter dem Tannenbaum zu versammeln und gemeinsam Weihnachtslieder zu singen.

Was beim Singen im Körper passiert

Serotonin
Das Hormon reguliert unter anderem die Weite von Blutgefäßen, des Magen-Darm-Traktes und der Atemwege. Außerdem kontrolliert Serotonin die Körpertemperatur, den Appetit, Schlaf und die Stimmung.

Noradrenalin
In körperlichen und seelischen Stresssituationen wird Noradrenalin ausgeschüttet. Das Stresshormon spielt eine bedeutsame Rolle bei Motivation, Motorik und Aufmerksamkeit.

Dopamin
Zuständig für die Motivation, den Antrieb, die Koordination und die Regulierung des Appetits ist Dopamin. Das Hormon steigert zudem die Wahrnehmungsfähigkeit und wird bei schönen Erfahrungen freigesetzt. Es gilt als Glückshormon.

Oxytocin
Das Hormon gilt als Bindungs- oder Treuehormon. Es verstärkt das Vertrauen gegenüber Mitmenschen und die emotionale Kompetenz. Es macht Menschen bindungsfähiger, baut zudem Stress ab und wirkt angstlösend.

Endorphine
„Endogene Morphine“, sind vom Körper produzierte Morphine, die schmerzlindernd beziehungsweise schmerzunterdrückend wirken. Aktiviert wird das Endorphinsystem oft in Notfallsituationen, daher verspüren manche Schwerverletzte zunächst keine Schmerzen. Andererseits werden Endorphine aber auch bei positiven Erlebnissen ausgeschüttet.