Psychisch kranke Migranten haben es besonders schwer, jemanden zu finden, der sie versteht. In der Ambulanz des Stuttgarter Rudolf-Sophien-Stifts wird ihnen geholfen.

Stuttgart - Am Ende hält er es nicht mehr aus. Am Ende platzt es einfach aus ihm heraus: „Ich wünschte, du hättest nur einen Hauptschulabschluss!“ Hakans Vater kämpft mit den Tränen, als er diesen Satz sagt. Er hat viel aufgegeben für seinen Sohn, hat viel Geld in dessen Ausbildung gesteckt, jeden Monat. So viel, dass er sich davon ein Auto hätte kaufen können. Er hat es lieber in Nachhilfe für Hakan investiert. Nur durch den Einsatz seines Vaters, das sagt Hakan selbst, schaffte er vor einigen Jahren das Abitur. Nun wünscht sich sein Vater, es wäre alles ganz anders gekommen.

 

Hakan wusste, dass sein Vater unzufrieden war, wenn er an den Wochenenden um fünf Uhr morgens aus dem Club nach Hause kam und der Vater bereits wach war, weil um fünf Uhr Zeit ist für das Morgengebet. Er wusste, dass es sein Vater ungern sah, wenn er lieber studierte, nebenher jobbte und viel feierte, statt fünfmal am Tag zu beten. Er wusste nicht, dass sich diese Unzufriedenheit in seinem Vater einnistete und sich dort erst in Verbitterung und später in Depression verwandelte.

So beschreibt und veröffentlicht Hakan die Geschichte von sich und seinem Vater vor wenigen Wochen in dem Blog „kleinerdrei“. Sein Eintrag wird Hunderte Male kommentiert, geteilt, getwittert, geliked. Hakan schreibt auch darüber, dass es offenbar nicht nur seinem Vater so geht, sondern vielen Migranten der ersten Generationen, mit denen er sich unterhält. Die Reaktionen auf seinen Text scheinen das zu bestätigen.

Aksümer hat in Ankara und Tübingen studiert

Die Studie „Seelische Gesundheit und Migration“ der Berliner Charité und des Klinikums Hamburg zeigt: türkischsprachige Migranten in Deutschland haben eine „erhöhte Prävalenz“ für psychische Störungen; bei depressiven Erkrankungen liegt sie um das Dreifache höher als der Durchschnitt. Und sie suchen zur Behandlung, auch das zeigt die Studie, häufig Ärzte und Therapeuten auf, die genau wie sie einen Migrationshintergrund haben. Davon gibt es zwar immer mehr – aber immer noch zu wenige.

Suzan Aksümer weiß um diese Probleme. Sie ist, gewissermaßen, ein Ausweg aus dieser Misere, denn Suzan Aksümer ist Psychotherapeutin. Genauer: Eine Psychotherapeutin, die auch auf Türkisch arbeitet. Aksümer hat einen türkischen Vater und eine Mutter aus Bayern, sie hat in Ankara und in Tübingen studiert.

Psychotherapie hilft in erster Linie mit Worten, schwierig, wenn Arzt und Patient nicht dieselbe Sprache sprechen. Bei Suzan Aksümer existieren diese Probleme nicht. Mit ihr können sich die Patienten in ihrer Muttersprache unterhalten. Für viele ist das wichtig. Wenn es um seelische Leiden geht, ist es oft schwer, sich in einer später erlernten Sprache auszudrücken. Manches lässt sich nicht so einfach übersetzen. Suzan Aksümers Terminkalender ist meistens voll.

Suzan Aksümer, 42, arbeitet in der Psychiatrischen Institutsambulanz des Stuttgarter Rudolf-Sophien-Stifts. Mehr als die Hälfte der gut 750 Patienten, die hierherkommen, haben einen Migrationshintergrund. Viele fahren etliche Kilometer mit dem Auto zu der Einrichtung, die unterhalb des Schattenrings liegt. Neben Suzan Aksümer sprechen fünf weitere Mitarbeiter in der Ambulanz Türkisch: Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter. Auch im Empfangsbüro versteht man beide Sprachen.

Hilfe für Menschen in einer ernsten Lebenskrise

Die Ambulanz, sagt der Chefarzt Martin Roser, liegt mit ihrem Angebot genau an der Schnittstelle zwischen einer klinischen psychiatrischen Versorgung, wie sie etwa das Bürgerhospital in Stuttgart leistet, und einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Praxis. In die Ambulanz kommen Menschen, die sich in einer ernsten Lebenskrise befinden, die nicht auf einen Behandlungsplatz warten können, für die eine stationäre Unterbringung aber zu früh käme. Viele Patienten werden auch von Ärzten ins Rudolf-Sophien-Stift geschickt, gerade, wenn die niedergelassenen Kollegen angesichts der Sprachbarriere nicht weiterwissen.

Seit acht Jahren gibt es die interkulturelle Ambulanz. Das Sophien-Stift bietet auch stationäre Plätze in der psychiatrischen Reha sowie der Kunst- und Bewegungstherapie – die meisten Patienten kommen aber zu Suzan Aksümer und ihren Kollegen in die Ambulanz. In einem langen Flur mit grauem Boden warten ältere Frauen mit Kopftüchern, die von ihren Männern begleitet werden, und junge Männer, die allein auf den Stühlen Platz genommen haben. Seit zwei Jahren sind alle Schilder auf dem Gelände deutsch und türkisch beschriftet. „Ein Kompromiss“, sagt der Chefarzt Roser. Suzan Aksümer legt Wert auf die Feststellung: „Wir sind hier nicht die Türkenambulanz.“

Das Therapieangebot auf Türkisch soll vor allem die anfängliche Hemmschwelle senken. Für viele Patienten, sagt die Psychologin Aksümer, sei es im Verlauf der Therapie aber entscheidend, dass auch Deutsch gesprochen werde. Einige Erkrankungen entstünden schließlich dadurch, dass Patienten die Sprache des Landes, in dem sie leben, nicht beherrschten. Langfristige Erfolge könnten in diesen Fällen nur erzielt werden, wenn die Patienten Deutsch lernen.

„Wir betreiben hier keinen Positivrassismus“, sagt Suzan Aksümer und meint damit, dass die interkulturelle Ambulanz eine Anlaufstelle sein will für Menschen, denen anderswo aufgrund der Sprache kaum oder nur unzureichend geholfen werden kann – aber genauso für alle anderen, die Hilfe suchen.

„Viele Probleme sind gleich“

Im Behandlungszimmer direkt neben Suzan Aksümer arbeitet Vera-Maria Ginter. Die Assistenzärztin versteht kein Türkisch, doch auch zu ihr kommen Menschen, die nur mäßig Deutsch sprechen. Für Ginter, 31, kein Problem. Manchmal hilft ein Dolmetscher in den Gesprächen, manchmal behelfen sich Ärztin und Patient auch mit ein paar Brocken Deutsch, Englisch, zur Not mit Händen und Füßen. Viele Patienten, die anfangs lieber einen türkischsprachigen Therapeuten gehabt hätten, aber aufgrund der begrenzten Kapazität zu ihr kamen, wollten bei späteren Terminen gar nicht mehr wechseln, sagt die promovierte Medizinerin Ginter. Die unterschiedlichen Kulturen würden in ihrer Arbeit auch keine große Rolle spielen: „Viele Probleme sind gleich.“ Bisher habe sie kaum einen Fall erlebt, in dem männliche Patienten mit einer jungen Frau als Therapeutin nicht einverstanden gewesen wären. Viel eher sei ein Problem, dass Hilfesuchende, egal in welcher Sprache, lieber zu einem Psychologen oder Psychotherapeuten gehen würden als zu einer Psychiaterin. Der schlechte Ruf kennt anscheinend keine kulturellen Grenzen.

Suzan Aksümer sagt, dass sie und ihre türkischstämmigen Kollegen für manche Patienten so etwas wie Rollenvorbilder seien, vor allem in Sachen Integration und Bildung. Wenn das stimmt, könnte es wohl kein besseres Vorbild geben als den Therapeuten Mehmet Yazici: Er wuchs in Deutschland auf, seine Familie stammt aus der Türkei. Er beendete die Schule, machte einen Realschulabschluss und begann eine Lehre als Elektrotechniker. Doch irgendwann entschied Yazici, dass das für ihn noch nicht alles gewesen sein konnte. Er wollte etwas anderes machen, etwas Spannenderes. Also besuchte er ein Abendgymnasium, holte sein Abitur nach und begann, Psychologie zu studieren. Heute sitzt Yazici in seinem Behandlungszimmer im Sophien-Stift und sagt, die Zahl der Patienten in der Ambulanz habe sich in den vergangenen Jahren verdoppelt. Psychologische Hilfe einzuholen sei quer durch alle Kulturen gesellschaftsfähig geworden.

Unterschiede, sagt Yazici, gebe es aber zwischen den Generationen, die zu ihm kommen. Während Migranten der ersten und zweiten Generation besonders oft unter psychosomatischen Erkrankungen leiden würden, näherten sich die Diagnosen über die Jahre hinweg immer mehr dem Durchschnitt der Bevölkerung an. Früher waren zum Beispiel Rückenschmerzen, für die es keine orthopädische Erklärung gab, ein häufiger Grund für den Besuch beim Therapeuten. In den jüngeren Generationen dominierten eher die „modernen Krankheiten“, also: Burn-out, Stress, Depression. Eine besondere Rolle während der Therapie spiele auch die Familie, sagt Yazici. Sie könne stützend wirken, aber auch Symptome verschlimmern oder auslösen.

Hakan schreibt in seinem Blogeintrag, dass er seinem Vater eine Familientherapie vorgeschlagen hat. Sein Vater lehnte ab. Hakan schreibt, dass er darüber nachdachte, den Kontakt zu seinem Vater abzubrechen. Er tat es nicht. Heute reden sein Vater und er wieder mehr miteinander, der Vater geht nun zu einer Psychotherapeutin. Es sei schwer gewesen, einen Platz bei Elif Cindik-Herbrüggen zu bekommen. Sie sei die einzige türkischsprachige Therapeutin in München.