Die digitale Medizin ist auf dem Vormarsch. Patienten können enorm profitieren, aber das deutsche Gesundheitssystem verschläft den Megatrend.

Stuttgart - Das kennt fast jeder: Man wacht morgens auf, und tief unten im Hals sitzt ein Frosch, der einen fiesen Hustenreiz verursacht. Der Husten hört sich gar nicht gut an. Steckt vielleicht etwas Ernstes dahinter? Und da ist ja auch noch diese komische Schlappheit. Sollte man besser zum Vorhusten und Abhören in die Arztpraxis? Australische Mediziner an der Universität von Queensland haben auf solche Fragen reagiert – mit der Entwicklung einer App, die tatsächlich zum Vorhusten einlädt, und zwar direkt ins Smartphone hinein.

 

Um die ResApp (Res steht für Respiratory System, Atmungssystem) gibt es gerade einen weltweiten Hype. Erste Tests haben gezeigt: Am Klangbild des Hustens erkennt die Anwendung mit Genauigkeiten von mehr als 90 Prozent, ob es sich um Asthma, eine Lungenentzündung, COPD (Chronisch obstruktive Lungenerkrankung) oder eine eher harmlose Infektion der oberen Atemwege handelt. Treffsicherer sei auch Röntgen nicht, behaupten die Erfinder.Weitere größere klinische Studien, auch in den USA, stehen unmittelbar bevor. Am Ende soll die ResApp Ärzten bei der Diagnose und Patientenführung helfen. Aber natürlich soll sie auch ganz normalen Smartphone-Nutzern zur Verfügung stehen, die sich einen Arztbesuch lieber ersparen möchten. Dann würden die Kassen des jungen Start-ups in Perth sicher kräftig klingeln.

Die Husten-Applikation von Down Under ist nur ein Beispiel für die gewaltige Digitalisierungswelle, die längst das Gesundheitswesen erfasst hat. Aufzuhalten ist sie nicht mehr: Täglich werden irgendwo auf der Welt neue Apps vorgestellt. Meist handelt es sich um Angebote für gesunde Menschen in Sachen Lifestyle und Fitness. Immer öfter aber richten sie sich auch an chronisch kranke Menschen. An Diabetiker etwa, Herz- und Rheumapatienten oder Frauen und Männer, die unter Depressionen leiden. Smartphones oder sogenannte Wearables (tragbare Minicomputer beispielsweise am Handgelenk), stets in Körpernähe gehalten, sammeln Daten, werten sie aus und teilen dem Patienten mit, wie es ihm gerade geht.

Millionen Bürger surfen in Sachen Gesundheit

Big Data für eine bessere medizinische Überwachung und Versorgung: Auf der Medica in Düsseldorf, der weltgrößten Messe für Medizin und Medizintechnik, kann man sich noch bis Donnerstag über die neuesten Entwicklungen informieren. Apps und damit mobile Gesundheitslösungen werden dort präsentiert, aber auch intelligente Implantate oder Prothesen aus dem 3-D-Drucker. Deutschland ist ein passender Standort für die globale Leitmesse, denn die Menschen hierzulande sind äußerst gesundheitsbewusst. Nach einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung hat schon fast jeder Dritte eine entsprechende App auf dem Smartphone.

Dessen ungeachtet tut das staatlich regulierte und teils auch organisierte deutsche Gesundheitswesen immer noch so, als wäre nichts weiter geschehen. Alexander Schachinger, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens EPatient RSD in Berlin, spricht von einer abgeschotteten „Parallelwelt“ jenseits des rasant expandierenden digitalen Universums. „Die Bereiche einer Gesellschaft, die sehr behördlich und regulativ gestaltet sind, haben mit Abstand die größten Schwierigkeiten, die neue Dynamik zu verstehen und ihre Vorteile zu nutzen. Das Gesundheitswesen gehört eindeutig dazu“, kritisiert er.

Die Menschen im Land seien da schon sehr viel weiter, sagt Schachinger. „40 Millionen Bürger surfen zum Thema Gesundheit im Internet. Die suchen und werden fündig, und dann gehen sie zu ihrem Arzt und verlangen, dass er ihnen ein im Internet entdecktes Medikament verschreibt.“ Wie andere Experten auch geht Schachinger davon aus, dass der Druck insbesondere auf die niedergelassenen Ärzte zunehmen wird. Patienten werden demnach über kurz oder lang von ihrem Arzt erwarten, dass er die auf dem Smartphone gespeicherten Gesundheitsdaten zur Kenntnis nimmt und für die Behandlung auswertet.

Verbreitetes Bedenkenträgertum

Die Mediziner seien darauf aber nicht oder kaum vorbereitet, ihre Vertreter in Kassenärztlichen Vereinigungen und Kammern ließen sie allein, moniert Schachinger. Einstweilen bleibe das Feld den Start-ups überlassen: „Die grätschen mit App-Lösungen da rein, wo Patienten Versorgungslücken wahrnehmen.“ Wie das hiesige Gesundheitswesen den Megatrend verschläft, lässt sich mustergültig am endlosen Elend der Gesundheitskarte zeigen. Sie sollte den Einstieg bringen in die digitale Gesundheitswelt, doch seit dem Beschluss zu ihrer Einführung 2003 zieht sich die Sache hin. Befürchtungen in Sachen Datenschutz spielten und spielen eine Rolle. Dazu kam und kommt allgemeines Bedenkenträgertum, nicht nur, aber doch verstärkt aufseiten der Ärzteschaft.

Ob die Karte irgendwann tatsächlich wie eine elektronische Patientenakte funktionieren wird, steht nach wie vor in den Sternen. Bis dahin dürften tagtäglich weiter ungezählte Chancen verpasst werden, medizinische Versorgung durch Transparenz zu optimieren – oder auch nur zu erleichtern: Während um uns herum längst die Daten-Cloud wabert, bekommen Entlasspatienten vom Krankenhaus Röntgenbilder auf Wunsch im braunen Umschlag mit nach Hause. Und in der Praxis des niedergelassenen Arztes gibt es seit Neuestem den Medikationsplan – aber selbstverständlich nur auf Papier ausgedruckt.