Bayerns Innenminister beklagt neue Eskalation der Gewalt im Freistaat . Bei einem Einsatz werden vier SEK-Polizisten in Mittelfranken verletzt.

Roth - Eigentlich hatte Joachim Herrmann, der bayerische Innenminister, für diesen Mittwoch einen recht entspannten Termin auf seinem Kalender. Wer sich als erster mit Motorenkraft in die Lüfte erhoben habe, die amerikanischen Gebrüder Wright oder Herrmanns mittelfränkischer Landsmann Gustav Weißkopf – das sollte bei einem historischen Symposium erörtert werden, und der wuchtige CSU-Mann wäre in seiner Zweit-Eigenschaft als Landesverkehrsminister gerne dabeigewesen. In Mittelfranken fand sich Herrmann wenige Stunden später tatsächlich vor, aber statt locker über luftige Fragen parlieren zu können, musste er „eine in Bayern neue Eskalation der Gewalt“ beklagen.

 

Eine traurige Bilanz

Ein Polizeibeamter durch Schüsse lebensgefährlich, ein zweiter schwer verletzt. Das hatte Herrmann als Bilanz eines SEK-Einsatzes vom Mittwoch Morgen zu verkünden. Ausgegangen war die Gewalt – wieder einmal, wie schon bei den drei Terror-Akten des vergangenen bayerischen Sommers – von einem Mann, der bis dato als „unauffällig“ gegolten hatte.

Man hätte etwas sehen können, aber schließen musste man daraus noch lange nichts: P., der 49-jährige Einwohner von Georgensgmünd bei Roth, hatte vor seinem Haus eine Fahne mit seinem Namen und einem Familienwappen aufgepflanzt. Zudem, das teilte Landrat Herbert Eckstein nachher in der Pressekonferenz mit, hatte sich P. spätestens im August in die innere Emigration begeben: Da hatte er sich formell aus Georgensgmünd abgemeldet. Seine KfZ-Steuer bezahlte er nicht mehr, und den Behörden, die zur Pfändung ausrückten, sprach er das Recht ab, mit ihm zu reden.

„Querulanten, Spinner, Rechtsextreme“

Der deutsche Staatsbürger P., so folgert Landrat Eckstein aus den ihm zugestellten Erklärungen, habe sich zum „Reichsbürger“ erklärt. Zum Mitglied einer anscheinend nicht weiter organisierten Gruppe von Menschen also, die bundesdeutsche Gesetze, Steuerbescheide, Autoritäten ablehnen, weil sie der Bundesrepublik als ganzer die Legitimation absprechen. Sie anerkennen, so die Auskunft von Polizei und Verfassungsschützern, nur ein deutsches Reich, wie es in den zwanziger oder dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts existiert habe.

Jede Woche Schreiben von „Reichsbürgern“

„Man hält sowas zunächst einmal für verrückt“, sagt Minister Herrmann. Jede Woche liefen im Ministerium Schreiben von „Reichsbürgern“ ein, die beispielsweise ihr Privatgrundstück von der Bundesrepublik abspalteten und zu selbständigem Staatsgebiet erklärten. Man habe diese Bewegung „wegen Nähe zum Rechtsextremismus“ unter Beobachtung des Verfassungsschutzes gestellt, sagt Herrmann; die Behörde selbst teilt über die Deutsche Presseagentur mit, unter den „Reichsbürgern“ seien „Querulanten, Spinner, Verschwörungstheoretiker und Geschäftemacher“; konkret überwache man aber auch 30-40 Personen „wegen völkischer, antisemitischer, also klar rechtsextremistischer Ideologie.“

Bei P., dem nach Polizeiangaben derzeit arbeitslosen, „nicht einschlägig vorbestraften“ früheren Betreiber einer Kampfsportschule, kam zur Ideologie eines hinzu: Er hatte Waffen. Als Jäger hielt er mehr als 30 Schussgeräte in seinem Besitz, legal und angemeldet.

Einsatzpanne oder Tragik?

Die Sache mit der verweigerten KfZ-Steuer brachte dann einen Stein ins Rollen: Das Landratsamt Roth, dessen Mitarbeiter beim Versuch der Nachfrage „recht harsch“ des Grundstücks verwiesen worden waren – so Landrat Eckstein – verdächtigte den Mann der „Unzuverlässigkeit“, startete ihm gegenüber eine „Anhörung“, und als diese erfolglos blieb, widerrief die Behörde den Waffenschein. Als auch dies kein Resultat zeitigte, erwirkte das Landratsamt einen Durchsuchungsbeschluss und holte – der vermuteten „Gefährdungslage“ wegen – ein Sonderkommando der Polizei zu Hilfe.

Der Rest, man wusste es am Mittwoch noch nicht recht, war Einsatzpanne oder Tragik. P., morgens um 6 Uhr von der SEK in seinem Haus überrumpelt, hatte es nach Vermutungen der Polizei schon vorher auf einen Schusswechsel angelegt: Die Schutzweste lag zum Überstreifen schon bereit, eine Waffe ebenso, und dann, so die Polizei weiter, feuerte P. „als erster, aus dem Obergeschoss des Hauses, durch die geschlossene Tür“ auf die Beamten. Eine Kugel drang einem Polizisten neben der Schutzweste in die Schulter; der 32-Jährige schwebte trotz Notoperation am Nachmittag noch in Lebensgefahr. Ein zweiter erlitt einen Durchschuss am Oberarm, zwei andere wurden durch Glassplitter leicht verletzt. Der Täter selbst wurde unverletzt festgenommen.

Entsetzt über die Dramatik

„Überaus entsetzt“ sei er „über die Dramatik, mit der sich eine solche Sache entwickeln kann“, sagt Minister Herrmann. Man müsse die „Reichsbürger“ jetzt „stärker in den Blick nehmen“. Dasselbe und eine genaue Datenbasis verlangt auch die Deutsche Polizeigewerkschaft; man brauche „ein bundesweites und behördenübergreifendes Lagebild über die von «Reichsbürgern» gegenüber Behördenvertretern begangenen Straftaten“, sagt der bayerische Gewerkschaftschef Hermann Benker. Es sei „nicht auszuschließen, dass Personen aus dieser Szene auch Radikalisierungsprozesse durchlaufen“, ergänzt ein Sprecher des bayerischen Verfassungsschutzes. „Radikalisierungsprozesse“: Bisher wurde dieses Wort vor allem auf junge Islamisten angewendet.