Angst essen Seele auf: Der eindrucksvolle Auftritt von Gewalt im Esslinger Komma am Sonntagabend.

Esslingen - Brigitte Miras Blick ist leer. Ein Ausschnitt aus Rainer Werner Fassbinders Klassiker „Angst essen Seele auf“ ziert das Cover der „Szene einer Ehe“-Single, die Patrick Wagner schweißgebadet nach Ende des Konzerts seiner Gruppe Gewalt im kleinen Saal des Esslinger Kommas gleich dutzendfach an den Mann bringt. Den Zuschauern sieht man die mächtige Wirkung des Auftritts an. Gewalt gehen dahin, wo es schmerzt.

 

Tatsächlich lässt sich die Wirkung des Ganzen durchaus mit Fassbinder-Kino vergleichen. Das verstörende Moment wirkt nach, wird den Konzertbesucher noch einige Tage beschäftigen. Obwohl die Texte sloganhaft und wütend sind, der Drumcomputer den Sound stoisch und unerbittlich treibt, berühren die Songs. Dementsprechend konsequent bezeichnet die Band ihr Genre auf Facebook treffend als „Existenzialisten Krach“.

Patrick Wagners Rückkehr auf die Bühne war im Mai letzten Jahres wenn nicht eine Sensation, so doch eine Überraschung. „Ich hab nach zwölf Jahren meinen Verstärker wieder angemacht, und als ich das Brummen gehört hab, bekam ich Gänsehaut und einen Schweißausbruch. Ich hab mich erinnert, was das für mich einmal war", gab Wagner dem „Spiegel“ zu Protokoll.

Beide Firmen sind pleite

2003 hat Wagner sein so kompromissloses wie einflussreiches Noise-Rock-Vehikel Surrogat zu Grabe gefahren.  Bei Surrogat war die Hybris Programm, Selbstüberschätzung als ein Prinzip, das funktionierte; weil hinter dem Größenwahn heimlicher Schmerz und böser Zynismus lauerten, die beim Hörer erst mit Verzögerung seine Wirkung entfalten konnten.

Nachdem er schon in den 1990ern das Indie-Label „Kitty-Yo“ mitgründete, folgte vier Jahre nach seinem Ausstieg dort das eigene Label „Lousiville Records“. Ihrer vorzüglichen Veröffentlichungen zum Trotz sind beide Firmen pleite. „Leider, leider mag ich echt gute Musik und störrische Musik und nervige Musik und Musik, die andere nicht mögen“, erklärte er vor einigen Jahren in einem Interview und offenbart das ganze Dilemma: „In meinem Lebenshoroskop steht: 'Sie sind geboren für's Showgeschäft'. Blöderweise habe ich diesen seltsamen Musikgeschmack“. 

Dass Wagner dennoch so lange als aktiver Musikschaffender pausierte wurde von vielen bedauert, seine Rückkehr entsprechend nicht nur im Feuilleton gefeiert. Der Zeitpunkt dafür ist gut gewählt: Am Erfolg der Gruppen Messer und vor allem Die Nerven zeigt sich der Bedarf an Gitarrenmusik wagnerscher Prägung und auch das sein „seltsamer Musikgeschmack“ wieder breiter geteilt wird.

Versteckt hinter pfeifenden Feedbacks

Im Esslinger Komma, das sich spätestens durch den internationalen Erfolg der Nerven und Linus Volkmanns Artikel über die Stuttgarter Musikszene im Musikexpress auch weit über die Region hinaus als Hotspot dieser Art von Musik etabliert hat, teilt sich Wagner die Bühne mit Die-Nerven-Schlagzeuger Kevin Kuhn. Zwei Jahre nach seinem letzten Auftritt reaktiviert dieser sein anarchisches Alter Ego Melvin Raclette. Versuchte er sich damals noch als eine Art Folk-Punk in der Tradition eines Billy Bragg an humorvollen Parodien auf das Stuttgarter Nachtleben und an Werbesongs der 90er, wagt sich Kuhn nun in poppigere Gefilde.

Versteckt hinter pfeifenden Feedbacks und stark verzerrtem Gesang durch zwei Mikrophone offenbart Kuhn Skizzen vielversprechender Melodien, aus denen einmal durchaus feine Popsongs werden könnten.

Vom klassischen Popsong ist die Musik von Gewalt weit entfernt. Als Wagner vor dem Song, der „so etwas wie unser Hit“ sei, berichtet, dass er beim Hören von „SWR 2 oder Radio Energy“ feststellte, Andreas Bourani sei so etwas wie sein Seelenverwandter wird das überaus deutlich. „Mein Herz schlägt schneller als deins“, beginnt Wagner, „sie schlagen nicht mehr wie eins“.

Vor „Szenen einer Ehe“, singt Wagner Zeilen eines Deutschpop-Schlagersängers, die er mit großen Lärm vergessen lässt: "Was? Was ist denn? Was willst Du denn von mir?", schreit er immer wieder. Akzentuiert jedes Wort einzeln. Der Titel „Szenen einer Ehe“ ist dem Ingmar Bergmann-Film entliehen und in seiner reduzierten, extrem verdichteten Lyrik so wirkungsvoll wie das fünf Stunden Meisterwerk des Schweden. Bergmann wie auch Fassbinder sind treffende Referenzen des künstlerischen Programms von Gewalt. Während Gitarristin Helen Henfling ebenso wie Wagner selbst erbarmungslose Gitarrenwände bauen, knallt der Drum-Computer einen bitterbösen Beatbeat.

Verdreckter Hochzeitsanzug

Bassistin Yelka Wehmeier fehlt heute, da sie ihren Vater zu Grabe trage, wie Wagner entschuldigt. Ein männlicher Kollege ersetzt sie souverän. „Arbeit, Krankheit, Tod“, zählt Wagner auf und appelliert: „Macht etwas aus eurem Leben!“ Dann folgt Pandora und Wagner nimmt allen Mut: „Unser Blick geht zurück / Unsere Schönheit ist auf der Flucht / Pandora, du Bitch / für uns ein Haufen Nichts / Arbeit, Krankheit, Tod.“

Im einst weißen, nun von Rost, Blut, Ruß verdreckten Hochzeitsanzug hält der Sänger eine nihilistische Predigt. „Wir waren größer als Gott“, stöhnt er. Wem das nicht reicht, stellt er ein düsteres Rezept aus: „Okay, wer von euch ist krankenversichert?“, fragt Wagner. Keine Reaktion. Er wiederholt seine Frage mehrmals, seine Stimme nun eher ein heiseres Krächzen. Wagner beschreibt den ewigen Drang des Menschen nach Sicherheit.

„Wir sind sicher“ folgt, ein sich ungeheuer auftürmender Song, Wagner zählt eine lose Reihe Dinge auf, die scheinbare Sicherheit versprechen. Sicherheit weicht Bedrohung. „Mein Verstand, mein Verstand, mein Verstand“, wehklagt Wagner. Am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit kann man die Zeilen als Antwort auf den omnipräsenten Rechtspopulismus verstehen. „Wir sind sicher“, brüllt der groß gewachsene Mittvierziger immer wieder. Für einen kurzen Moment ist man versucht, ihm zu glauben. Angst essen Seele auf.