Chefs, die in zerrissener Kleidung vor Arbeitern fliehen müssen: Nicht nur bei Air France gehen Demonstrationen der Belegschaft mit rauen Sitten zu – mitunter kam es in anderen Unternehmen sogar schon zu Geiselnahmen.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

Paris - Dann gab es nur noch eins: davonrennen und die eigene Haut retten. Mehrere Direktoren der Fluggesellschaft Air France waren am Montag angetreten, um der Belegschaft einen drastischen Sparplan zu präsentieren, nachdem die Gewerkschaften Verhandlungen abgelehnt hatten. Als die Chefs Entlassungen ankündigten, wurden sie mit Schreien quittiert. Vor der Bühne kam es zu einem Handgemenge, Fäuste flogen, ein Wachmann wurde verletzt, und plötzlich erschallte der Ruf: „Kleider runter, Kleider runter!“

 

Pierre Plissonnier, der weißhaarige Direktor für Langstreckenflüge, wurde gerade noch mit zerfetztem Hemd aus dem Saal geschleust. Personalchef Xavier Broseta konnte ihm nur noch mit entblößtem Oberkörper folgen; seine Krawatte hing ihm um den Hals. Dann gaben die beiden Bosse Fersengeld. Broseta, zwischen zwei Bodyguards, fiel draußen der Länge hin, raffte sich aber auf. Vor laufenden Fernsehkameras erklomm er wie Plissonnier ein Eisengitter und schwang sich darüber. Seine gut sichtbare Haut war in Sicherheit.

Die Polizei schreitet bei solchen Vorkommnissen kaum ein

Auch die Franzosen sind geschockt. Dabei sind sie von ihren Gewerkschaften einiges gewohnt. Direktoren wurden schon mit Tomaten und Getränkedosen beworfen, Aktionäre – zuletzt vom Luxuskonzern PPR, zu dem Puma gehört – mit faulen Eiern. Das Büro des Hafendirektors von Marseille wurde einmal von Hafenarbeitern mit Äxten zu Kleinholz gemacht.

Nicht selten gibt es Geiselnahmen von Chefs. Der Vorstandsvorsitzende von Sony France wurde über Nacht festgehalten, bis er in die Verhandlungen einwilligte. Dasselbe geschah in einer Caterpillar-Fabrik und beim Reifenhersteller Goodyear. Noch weniger Glück hatte ein Fabrikchef in Auxerre im Burgund: Er wurde von seinen Angestellten gezwungen, an einer Demonstration gegen seinen eigenen Sozialplan teilzunehmen.

Die Polizei schreitet bei solchen Vorkommnissen kaum ein. Protestieren ist in Frankreich heilig, seitdem die hungrigen Pariser mit Heugabeln vor den Toren von Schloss Versailles aufmarschiert waren, um Brot zu verlangen. Jetzt sind die Zeiten mit fünf Millionen arbeitslosen Franzosen ebenfalls schwierig. Bei Air France könnten 2900 bisher eher privilegierte Angestellte, darunter 300 Piloten, ihren Job verlieren.

Staatschef François Hollande ordnet keine Folgen an

Staatschef François Hollande bezeichnete die Handgreiflichkeiten am Dienstag als „inakzeptabel“, hütete sich aber, strafrechtliche Folgen anzuordnen – genauso wenig wie in einem anderem Fall: Vor einem Jahr steckten unzufriedene Landwirte nächtens das ungeliebte Finanzamt von Morlaix in der Bretagne in Brand, ohne dafür behelligt zu werden.

Hollande weiß auch: hinter solchen Aktionen steckt oft die Wut der Verzweiflung. Angestellte von Chemiebetrieben drohten in Frankreich schon mehrfach damit, das Grundwasser mit giftigen Flüssigkeiten zu verseuchen, um die Schließung ihrer Werkstätte zu verhindern. In den Ardennen leiteten Entlassene der Firma Cellatex vor ein paar Jahren in der Tat mehr als eine Tonne Säure in die Maas.

Wer kein Chemie zur Hand hat, greift zum Dynamit. Als die kanadische Firma Nortel Networks in Châteaufort (Großraum Paris) 480 von 680 Stellen streichen wollte, stellten Mitarbeiter ein Dutzend große Gasflaschen auf das Fabrikdach und drohten das Gebäude in die Luft zu sprengen. Die Direktion berief darauf eine Sitzung ein, um wenigstens über die Höhe der Abfindungen zu verhandeln.

So funktioniert in Frankreich Sozialpartnerschaft

Bei dem Elektrohersteller Moulinex in Cormelles-le-Royal (Normandie) unterstrichen ein paar Angestellte ihre Sprengdrohung, indem sie ein erstes Fabrikgebäude in Brand steckten. Das war immerhin weniger gefährlich als die Sabotageversuche im Atomkraftwerk Bugey nahe der Schweizer Grenze. Électricité de France (EDF) musste darauf den Reaktor anhalten – und Verhandlungen aufnehmen.

So funktioniert in Frankreich Sozialpartnerschaft: Während in anderen Ländern gestreikt wird, wenn die Verhandlungen gescheitert sind, protestiert und demonstriert man in Frankreich zuerst lauthals, um sich danach an den Verhandlungstisch zu setzen. Denn vor der entscheidenden Gesprächsrunde will man die Muskeln spielen lassen. Das vermag allerdings nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die französischen Gewerkschaften generell aus einer Position der Schwäche heraus operieren. In Frankreich sind halb so viele Angestellte einer Arbeitnehmerorganisation beigetreten wie in Deutschland. Dafür gehen sie doppelt so rabiat zur Sache.