Vor dem Landgericht Ellwangen hat der Mordprozess gegen den mutmaßlichen Täter von der A 7 begonnen. Das schwer verletzte Ehepaar schildert sein Leid. „Mein Leben ist untergegangen“, sagt die Frau, die seit dem Unfall im Rollstuhl sitzt.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Ellwangen - Autoscheinwerfer erfassen einen Stein auf der Autobahn 7, es ist zu spät, das Steuer herumzureißen. Das Vorderrad des Wagens, ein Citroën C 5, wird bei Tempo 120 abgerissen, die schlingernde Karosse kracht gegen eine Böschung, überschlägt sich mehrfach und bleibt auf dem Dach liegen. Der Fahrer, ein 33-jähriger Vater, hängt mit gebrochenem Becken im Sicherheitsgurt. Seine Frau blutet schwer, ist bewusstlos. Die beiden Kinder, vier und sechs Jahre alt, schlafen an diesem 25. September gegen 1.30 Uhr ohne angelegten Sicherheitsgurt auf der Rückbank. Sie werden durch zerbrochene Autoscheiben aus dem Fahrzeug geschleudert und überleben mit schweren Prellungen.

 

Frau wurde am schwersten verletzt

Dass da eine Brücke war, von der nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft Ellwangen ein 37 Jahre alter Mann einen zwölf Kilogramm schweren Pflasterstein geworfen hat, daran können sich weder der Vater noch seine Ehefrau erinnern. Sie, die am schwersten getroffen wurde, ist 25 Jahre alt. Ihr Fuß musste amputiert werden, wegen eines Wirbelbruchs ist sie im Rumpfbereich gelähmt. Zum Unfallzeitpunkt, sagt sie vor dem Landgericht Ellwangen, habe sie geschlafen. Sie muss im Rollstuhl in den Sitzungssaal geschoben werden, kann seit dem fatalen Unfall nicht mehr zu Hause in Laupheim sein, weil die Wohnung im zweiten Stock liegt. „Mein Leben ist untergegangen“, sagt sie über den Zeitpunkt, als ihr die Ärzte die Wahrheit über ihren Gesundheitszustand darlegten.

Sechs Verhandlungstage hat sich das Gericht vorläufig gegeben, um aufzuklären, was nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft ein versuchter vierfacher Mord verbunden mit schwerer Körperverletzung ist. Der Beschuldigte soll in der Nähe des Flugplatzes Giengen einen zwölf Kilogramm schweren Betonpflasterstein von einer Palette genommen, ihn mit einem Fahrrad zur Brücke geschafft und auf die Fahrbahn der A 7 geworfen haben. Das Mordmerkmal der Heimtücke sei gegeben, sagt der Oberstaatsanwalt Peter Staudenmaier, da der 37-Jährige gewusst habe, „dass die Insassen eines sich der Brücke nähernden Fahrzeugs nicht mit einem derartigen Anschlag rechnen würden“. Dass es die Familie aus Laupheim treffen würde, die von einer Hochzeitsfeier bei Regensburg nach Hause zurückkehren wollte: purer Zufall.

Der Beschuldigte macht keine Angaben

Zum Prozessauftakt am Donnerstag lässt der 37-jährige Angeklagte die Gelegenheit verstreichen, seine Version der Tatnacht zu schildern. „Keine Angaben“, sagt er lediglich. Neben ihm sitzt, was wie eine verstärkte Vorsichtsmaßnahme wirkt, ein Justizbeamter, der Verteidiger hat sich eine Reihe weiter nach vorn gesetzt. Der Vorsitzende Richter Gerhard Ilg lässt den 37-Jährigen eine Baseballmütze auf dem Kopf behalten, deren Schirm tief ins Gesicht reicht. Der Richter spricht mit dem Angeklagten wie mit einem ungezogenen Kind, langsam und laut: „Ich habe Ihnen im Vorgespräch ja zugesagt, wenn Sie sich ruhig verhalten, nehmen wir die Handschließen ab.“ Die Fußfesseln aber bleiben. „Das verstehen Sie, oder?“

Auch die Zuhörer im Gerichtssaal werden bald verstehen. Zunächst schildern andere Autofahrer, die kurz nach dem Fahrzeugüberschlag die Brücke bei Giengen erreichten, was sie erlebten. Der Bruder des 33-jährigen Familienvaters, der ebenfalls von der Hochzeitsfeier kam, erzählt, wie er selbst gerade noch bremsen konnte und an der Fahrertür des Unfallwagens zerrte. Zwei weitere Männer, die in einem Firmenwagen fuhren, berichten, was der Familienvater aufgrund des Schocks nicht mehr genau weiß: Wie die Kinder in der nächtlichen Autobahnböschung standen, der kleine Junge „hysterisch“ weinend, wie der 33-Jährige um Hilfe für seine im Autowrack gefangene Frau rief. Die Staatsanwaltschaft geht von einer „schweren seelischen Abartigkeit“ des Angeklagten aus, stellt eine „verminderte Schuldfähigkeit“ zum Tatzeitpunkt in den Raum. Der 37-Jährige ist kein Unbekannter, er wurde schon wegen Körperverletzung und Beleidigung strafrechtlich verfolgt. Wegen einer psychischen Erkrankung war der Mann jedes Mal straffrei geblieben. Auch diesmal scheint fraglich, ob eine Gefängniszelle im Fall der Verurteilung der richtige Ort wäre. Ein Richter ordnete während der Ermittlungen bereits die Verlegung von einem Untersuchungsgefängnis ins Zentrum für Psychiatrie Bad Schussenried an.

Gutachter: Schwere Persönlichskeitsstörung

Um welche Störung es sich exakt handelt und ob der 37-Jährige überhaupt verurteilt werden kann, gehört zu den zentralen Fragen des Prozesses. Am Rand der Verhandlung sagt der vom Gericht bestellte psychiatrische Gutachter Peter Winckler, in früheren Diagnosen den Verdächtigen betreffend sei Schizophrenie festgestellt worden. „Ich glaube aber, es handelt sich um eine schwere Persönlichkeitsstörung“, so Winckler. Er wird seine Expertise gegen Ende des Prozesses vortragen.

Zunächst erlebt er im Gerichtssaal ei-nen befremdlichen Ausbruch des Angeklagten mit. Noch als der geschädigte Familienvater von der katastrophalen Nacht im September spricht, platzt der 37-Jährige, der zuvor nur auffällig blinzelte und mit den Schultern zuckte, heraus: „Woher willst du wissen, ob ich überhaupt geschmissen hab?“ Er schiebt nach: „Sobald ich draußen bin, hol ich eine Knarre und dann . . .“ Es fällt noch der Begriff „Nahkampf“, bevor ihn Sicherheitsbeamte zur Ruhe bringen. Die Drohung hat starke Wirkung im Gerichtssaal. Eine zweite mit dem Prozess verbundene Anklage legt dem Mann unerlaubten Waffenbesitz zur Last. Am Rand eines Fabrikgeländes in Heidenheim soll er mehrere Schusswaffen versteckt haben, dazu knapp 200 Schuss Munition und selbst gegossene Projektile.

Wie sich andeutet, wird die Staatsanwaltschaft alle forensischen Beweise dieses Falles benötigen, um einen Schuldspruch zu erreichen. Sowohl an den Trümmerteilen des von der Brücke geworfenen zerbrochenen Pflastersteins auf der Autobahn 7 als auch an einer Plane, die den Steinstapel am Flugplatz Giengen abdeckte, konnte die DNA des Angeklagten sichergestellt werden.

Vergleichbare Fälle

Im Februar 2000 warfen in Darmstadt drei US-Amerikaner im Alter von 14, 17 und 18 Jahren Steine von einer Fußgängerbrücke auf die Fahrbahn, zwei Autofahrerinnen wurden getötet. Wegen zweifachen Mordes sprach ein Gericht Jugendstrafen von sieben und achteinhalb Jahren aus. Motiv: Langeweile und Erlebnishunger.

Frust
Im Jahr 2009 verurteilte das Landgericht Oldenburg einen Drogensüchtigen wegen Mordes. Der Mann hatte am Ostersonntag 2008 einen sechs Kilogramm schweren Holzklotz auf die A 29 geworfen. Eine Autofahrerin wurde vor den Augen ihrer Kinder getötet. Als Motiv der Tat galt Frust, dass kein Heroin zu bekommen war.

Der sogenannte „Elmshorner Beilwerfer“ wurde im Februar 2009 freigesprochen. Der 42-jährige Mann warf ein Beil in die Windschutzscheibe eines Autos, es verfehlte den 65 Jahre alten Fahrer nur knapp. Der Täter wurde als schuldunfähig eingestuft und in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen.