Seit seinem 15. Lebensjahr sitzt Ben Day im Gefängnis. Als Teenager soll er seine Mutter und zwei seiner Schwestern brutal ermordet haben. Libby Day, die dritte Schwester, hat seinerzeit als Kind gegen ihn ausgesagt. Doch jetzt kommen ihr Zweifel an der eigenen Wahrnehmung . . .

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Es gibt Menschen, die andere Menschen am liebsten lynchen würden, wenn diese die Auflösung eines Krimis verraten – Spoiler haben in der Szene keinen besonders guten Ruf. Aus diesem Grund darf deshalb an dieser Stelle keinesfalls stehen, wie Gillian Flynns „Dark Places“ ausgeht. Nur soviel: die Auflösung ist, na, ungewöhnlich, überraschend, für den Gesamteindruck nicht ohne Risiko. Aber das muss dann jeder für sich selbst entscheiden.

 

Bis es aber soweit ist, nimmt Gillian Flynn ihre Leser mit auf eine Odyssee zum White Trash irgendwo in Kansas. Sie erzählt die Geschichte von Libby Day, einer Frau, die als Kind den Mord an ihrer Mutter und an ihren beiden Schwestern miterleben musste. Vor Gericht sagte sie aus, sie habe ihren älteren Bruder Ben gesehen, wie der den Rest der Familie abschlachtete.

Seither sitzt Ben im Gefängnis, ohne Aussicht auf Freilassung. Dass er überhaupt noch am Leben ist, verdankt er der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Tat die Todesstrafe gerade mal wieder abgeschafft war. Libby hingegen lebt als verbitterte Kindfrau in den Tag hinein, alimentiert aus einem Fonds, den mildtätige Bürger für sie zusammengespendet haben. Doch jetzt ist das Geld aus, Libby steht mittellos da. In ihrer Not beschließt sie, ihr Schicksal zu versilbern und Devotionalien an eine Gruppe von Verschwörungstheoretikern zu verscherbeln, die von Bens Unschuld absolut überzeugt sind.

Anfangs verschreckt, macht sich Libby auf die Suche nach ihrer wahren Familiengeschichte. Sie besucht erstmals ihren Bruder im Gefängnis, fahndet nach ihrem nichtsnutzigen, versoffenen Vater, wühlt sich durch ein Dickicht von Lügen, Verdächtigungen und Halbwahrheiten.

Souverän verschachtelt Gillian Flynn die Zeitebenen und die Perspektiven, zeichnet das Bild einer Familie, der mikro- wie makroökonomische Umstände den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Und schnell wird klar, dass die Verurteilung Bens auf ziemlich wackligen Füßen gestanden hat.

Nur die Konstruktion des tatsächlichen Tathergangs, die ist, wie gesagt, hm, ungewöhnlich.

Gillian Flynn: „Dark Places - Gefährliche Erinnerung.“ Roman. Aus dem Englischen von Christine Strüh. Scherz Verlag, Frankfurt a. M. 462 Seiten, 14,99 Euro. Auch als E-Book, 14,99 Euro.