Vor 25 Jahren ereignete sich das Gladbecker Geiseldrama. Funk und Fernsehen, Zeitungen und Magazine waren immer mittendrin dabei – live und schamlos berichteten sie vom öffentlichsten Verbrechen, das die Bundesrepublik je gesehen hat.

Stuttgart - Gladbeck ist eine eher unauffällige Stadt im nördlichen Ruhrgebiet. Bis heute aber verbindet sich mit ihrem Namen ein schockierendes Spektakel, das sich vor 25 Jahren ereignete, zwischen dem 16. und 18. August 1988. Es macht Gladbeck zum „Sündenfall des deutschen Journalismus“. Damals hatten Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, zwei Kriminelle aus Recklinghausen, in Gladbeck eine Bank überfallen. Sie nahmen zunächst zwei Bankangestellte und schließlich die Fahrgäste eines Bremer Busses als Geiseln. Drei Tagen fuhren sie plan- und ziellos durch Deutschland, kaum behelligt von der Polizei. Statt dessen hefteten sich Journalisten an die beiden Gangster und ihre Geiseln, interviewten Täter und Opfer, halfen den Kriminellen durch den Verkehr und besorgten den Informationsaustausch zwischen ihnen und der Polizei.

 

Die Öffentlichkeit war live dabei, als Rösner im Bus einen 15-jährigen Italiener erschoss. Die Journalisten schauten ungeniert ins Auto, als die 18-jährige, völlig erschöpfte und verzweifelte Geisel Silke Bischoff von einem Reporter gefragt wurde: „Na, wie geht es Ihnen?“ Gleichzeitig hielt ihr Degowski die Pistole an den Hals. Wenige Stunden später war Bischoff tot. Sie wurde erschossen, als die Polizei das Drama auf der Autobahn bei Honnef beendete, indem sie das Fluchtauto der Geiselnehmer rammte und mit sechzig Schüssen durchsiebte. Ob Silke Bischoff tatsächlich von einer Kugel aus der Pistole Rösners getroffen wurde, wie die Polizei behauptete, wurde nie zweifelsfrei geklärt. Das Bild der verängstigten Silke Bischoff wird noch lange im kollektiven Gedächtnis der Deutschen gespeichert sein.

Die Polizeitaktik lief ins Leere

Im Gedächtnis haftet aber auch das Bild einer journalistischen Meute, die im Hunger auf Sensationen alle Grenzen überschritt und die Polizei zeitweilig an den Rand des Geschehens drückte. Journalisten hatten gleich zu Beginn der Tragödie die Nummer der Bank ausfindig gemacht und die Geiselnehmer nach ihren Bedingungen gefragt. Schon das war ein Verstoß gegen den Grundsatz, dass es allein Sache der Polizei ist, mit den Tätern zu verhandeln. Weil die Polizei von dem Andrang der Presse- und Funkleute überrollt wurde, kam es dazu, dass sich die Geiselnehmer, die Waffe in der Hand, vor einem fassungslosen Fernsehpublikum über ihren kriminellen Werdegang, ihre Ziele und Motive äußern durften. Da lief jede Taktik der Polizei von vornherein ins Leere.

Gangster, die Geiseln nehmen, suchen diese Art von Öffentlichkeit, weil sie ihnen zugleich Schutz bietet. Nicht von ungefähr verkündete Rösner: „Ich will jetzt nur noch durch die Medien reden.“ In dem Bus, den die Gangster auf ihrer Irrfahrt in Bremen gekapert hatten, veranstalteten sie regelrechte „Pressekonferenzen“. Damit wurde das Verbrechen zum Schauspiel, das die Zuschauer in Direktübertragung am Bildschirm verfolgen konnten. Spätestens in Bremen hätte auffallen müssen, dass Fernsehkameras und Mikrofone nicht mehr dazu dienten, ein Ereignis transparent zu machen. Im Gegenteil: sie dienten dem Interesse der Verbrecher und trieben das Geschehen auf einen Weg, der mit den Interessen der Polizei kollidieren musste.

Journalisten machten sich zu Komplizen

Geiselnehmer wollen unbehelligt fliehen. Damit ihnen das gelingt, suchen sie eine möglichst breite Öffentlichkeit, denn diese erschwert der Polizei die Arbeit. Als die Gangster den Bus und die Mehrzahl der Geiseln freigegeben hatten, stiegen sie an der holländischen Grenze in einen Personenwagen um und fuhren nach Köln weiter. Dort wurden sie von zahlreichen Zuschauern schon erwartet. Sie plauderten mit ihnen und tranken Kaffee. Um ihnen den Weg aus der Stadt zu weisen, stieg der Chefredakteur eines örtlichen Boulevardblattes zu ihnen ins Auto und geleitete sie aus der Stadt in Richtung Autobahn.

Dass sich Medienvertreter hier als Helfer, Vermittler oder gar als Tauschobjekt gegen Geiseln angeboten haben, nur um journalistisch die Nase vorn zu haben, bedeutet einen Verlust sämtlicher Maßstäbe. Reporter sind dazu da, Vorgänge zu beobachten und zu beschreiben, nicht aber, den Gang der Ereignisse zu bestimmen. Menschen in Geiselhaft zu helfen, ist Sache der Polizei. Die Medien haben auch nicht zu vermitteln. In den USA gilt der Grundsatz, dass bei Geiselnahmen nur die Polizei verhandelt, niemand sonst. Zudem: Kidnapping ist eine Sache auf Leben und Tod, es eignet sich nicht zum öffentlichen Schauspiel.

Immerhin, wenig später stellte der Deutsche Pressrat fest, es habe Medien gegeben, welche die Grenzen ihres gesellschaftlichen Auftrags überschritten hätten. Interviews mit Geiselnehmern während des Geschehens dürfe es nicht geben, auch sei es nicht die Aufgabe von Journalisten, eigenmächtig Vermittlungsversuche zu unternehmen. Die Worte scheinen zu wirken, denn zu einem vergleichbaren Fehlverhalten der Medien ist es bisher nicht mehr gekommen.