Erstmals gehören 50,1 Prozent der Stuttgarter weder der evangelischen noch der katholischen Kirche an. Dennoch ist die Mehrheit der Einwohner weiterhin christlich geprägt.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Vergangenen Juni ist Stuttgart kurzzeitig fest in evangelischer Hand gewesen. Überall wurde gesungen, gebetet, über Werte diskutiert. „Das waren irre fünf Tage“, sagt der evangelische Stadtdekan Søren Schwesig. Er bekommt sofort gute Laune, wenn er an den Evangelischen Kirchentag in der Landeshauptstadt denkt. Doch auch das Großereignis kann nicht darüber hinwegtäuschen: in der Realität ist Stuttgart schon lange keine evangelische Stadt mehr, von den rund 391 000 Mitgliedern, dem Höchstwert Ende der 50er Jahre, ist man weit entfernt. Inzwischen gehören laut dem Statistischen Amt der Stadt (Stand 2015) nur noch 152 291 Mitglieder der evangelischen Kirche an. Die katholische Kirche hat laut den städtischen Zahlen 142 430 Mitglieder. Beide zusammen repräsentierten im Jahr 2015 erstmals weniger als die Hälfte der Stuttgarter. 50,1 Prozent der Einwohner sind entweder konfessionslos oder anderen Glaubens. Zum Vergleich: um das Jahr 1970 war noch die Hälfte der Stuttgarter evangelisch, ein weiteres Drittel katholisch, nur 16 Prozent gehörten nicht den beiden Kirchen an.

 

Vor allem für die evangelische Kirche ist die Entwicklung deprimierend: Bei ihr zeigt die Kurve seit vielen Jahren kontinuierlich nach unten, die katholische Kirche ist stabiler, konnte in jüngerer Vergangenheit teils auch leichte Zuwächse vermelden. Das liegt an der Zuwanderung, von der die katholische Kirche mehr profitiert, so dass Austritte und Sterbefälle besser ausgeglichen werden können. „Wir sind eine Migrantenkirche“, sagt der katholische Stadtdekan Christian Hermes. Nicht nur die Stadt werde immer internationaler und vielfältiger, das Gleiche gelte für seine Kirche. Nur noch 73,67 Prozent der Stuttgarter Katholiken haben einen deutschen Pass. Auch demografisch sieht es bei den Katholiken besser aus: Laut dem Statistischen Amt der Landeshauptstadt sind Mitglieder der evangelischen Kirche im Schnitt 46,9 Jahre alt gegenüber 44 Jahren bei den Katholiken.

Reichweite der Kirchen ist größer

Nur was heißt das alles für das Christentum in Stuttgart: Ist die Stadt nicht mehr mehrheitlich christlich? Die Antwort lautet: Nein. Auch Freikirchen und christlich-orthodoxe Gemeinden zählen die Statistiker zu den anderen Religionszugehörigkeiten. „Die Zahlen aus dem Zensus sind im Blick auf die anderen Religionsgemeinschaften sehr vage und wenig belastbar“, stellt Hermes klar. Dies gilt im Übrigen auch für die in Stuttgart lebenden Muslime, über deren Zahl nur Schätzungen vorliegen. Die Stadt geht bei dieser Gruppe von etwa 60 000 Personen aus. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Erkenntnis der Statistiker, dass nur zehn Prozent der Stuttgarter gar keine Religionszugehörigkeit haben. Noch etwas kommt hinzu: man kann sich auch als Christ fühlen, ohne Mitglied in der Kirche zu sein. Ansgar Schmitz-Veltin vom Statistischen Amt, der sich intensiv mit dem Thema befasst hat, geht von bis zu 400 000 Christen in Stuttgart aus. Das entspräche rund zwei Dritteln der Bevölkerung. Wie für andere Großstädte auch könne kein genereller Rückgang von Religion und Glauben in Stuttgart festgestellt werden, wohl aber ein Bedeutungsverlust der „Amtskirchen“, so Schmitz-Veltin.

Mit besonders vielen Kirchenaustritten hatten diese 2014 zu kämpfen. Beide Stadtdekane machen hierfür die Einführung des automatisierten Kirchensteuereinzugs auf die Abgeltungsteuer für Kapitalerträge verantwortlich, die Unmut ausgelöst hat, obwohl nur wenige hiervon betroffen sind. Mit einer besseren Information hätte man die Austritte vermeiden können, glaubt Hermes, der sogar von einem „Kommunikationsdesaster“ spricht.

Kirche schreibt Briefe an frischgebackene Eltern

Im Jahr 2015 hat aber etwas anderes den Ausschlag dafür gegeben, dass die beiden Großkirchen ihre Mehrheitsposition verloren haben: Stuttgart ist um fast 10 000 Personen gewachsen – und davon haben vornehmlich die anderen Religionsgemeinschaften profitiert. Auch die Zuweisung an Flüchtlingen wird eine Rolle gespielt haben, da diese mehrheitlich muslimischen Glaubens sind. Beim Statistischen Amt weist man darauf hin, dass rund 3000 in Stuttgart lebende Flüchtlinge 2015 noch gar nicht ins Melderegister eingegangen sind. Wie berichtet wird die Eintragung momentan nachgeholt. Das wird sich also erst noch statistisch niederschlagen.

„Religion ist in Stuttgart nicht auf dem Rückzug“, das ist Søren Schwesig wichtig festzuhalten. Grundsätzlich sei das Interesse für Religion da, und das ist für ihn „ermutigend“. Angesichts der Entfremdung von der Institution Kirche fragt sich Schwesig, wie man diejenigen erreichen kann, bei denen das bis jetzt nicht gelingt. Mit einem Team ist er auf der Suche nach Lösungen. Ein kleines, aber sichtbares Ergebnis: diesen März startet eine Briefaktion, die passive Mitglieder im Blick hat. Wer neu nach Stuttgart zieht, wird in Zukunft schriftlich willkommen geheißen. Frischgebackene Eltern sollen zur Geburt Glückwunschpost von der Kirche bekommen, auch Menschen, die einen runden Geburtstag haben, sollen von März an angeschrieben werden – und das schon, wenn sie 20 oder 30 werden, nicht erst im höheren Alter. Auch strukturell wird es wohl Veränderungen geben. Nicht jede Kirchengemeinde müsse eigene Jugendarbeit machen, man könne das zum Beispiel für einen Stadtbezirk konzentriert an einer Gemeinde anbieten, meint Schwesig.

Immer mehr Menschen wollen sich nicht binden

Die katholische Kirche ist seit rund vier Jahren im Umbauprozess: „Wir müssen nicht alles machen, aber das, was wir machen, müssen wir gerne und mit Überzeugung tun“, meint Stadtdekan Hermes, der unter dem Titel „Aufbrechen“ versucht, die katholische Kirche in Stuttgart fit für die Zukunft zu machen. Ein Ergebnis ist das jugendpastorale Zentrum, das im September eröffnen wird. Es gebe nun mal eine Säkularisierungsbewegung, so Hermes. „Das sind große Entwicklungen, die man nicht einfach umkehren kann.“ Generell würden sich die Menschen heute weniger binden. „Wenn man für eine Dienstleistung erst dann zahlen will, wenn man sie braucht, gibt es sie vielleicht irgendwann nicht mehr“, gibt Hermes zu bedenken.