Immer mehr Menschen berichten über Beschwerden nach dem Genuss von Brot, Pasta oder Pizza. Möglicherweise reagieren sie sensibel auf Gluten – was nicht automatisch heißt, dass sie eine Allergie entwickeln.

Stuttgart - Zwei Jahre lang stand Heidi Müller vor einem Rätsel: obwohl die 52-jährige über Jahrzehnte hinweg immer Konfektionsgröße 36 getragen hatte, spannte plötzlich die Jeans um die Hüfte, die einst straffe Leibesmitte wurde von einem aufgeblähten Bauch überspannt und sie litt zunehmend nicht nur unter Verdauungsstörungen, sondern auch unter Müdigkeit, Kopfschmerzen und Antriebslosigkeit. Zunächst vermutete die Berlinerin, es handele sich dabei um unvermeidliche Begleiterscheinungen der Wechseljahre.

 

Müllers Hausärztin äußerte jedoch einen ganz anderen Verdacht: sie nannte das rätselhafte Leiden „Glutensensitivität“, schickte ihre Patientin ohne Rezept, aber mit der Anordnung nach Hause, einige Zeit auf Getreideprodukte zu verzichten und zu beobachten, ob die Symptome währenddessen verschwinden. Tatsächlich besserte sich Müllers Zustand deutlich. Damit leidet sie vermutlich an etwas, das von Experten als Krankheitsbild zwar diskutiert, aber noch nicht ganz verstanden ist.

Auslöser der sogenannten Glutensensitivität, die in zahlreichen Internetforen auch um Begleiterscheinungen wie Depression, Hautausschlag, Verstopfung und Blähungen ergänzt wird, soll, so der Verdacht einiger Experten, das Getreideeiweiß Gluten sein, das in nahezu allen heimischen Getreidesorten wie zum Beispiel Weizen, Roggen und Gerste enthalten ist.

Diese Glutensensitivität ist nicht lebensbedrohlich und unterscheidet sich von einem anderen Krankheitsbild, das vom Getreide ausgelöst wird: der Zöliakie. Etwa einer von hundert Menschen in Deutschland leidet unter dieser autoimmunologisch bedingten Erkrankung. Betroffene vertragen die Bestandteile des Klebereiweißes Gluten nicht. Sie berichten von chronischen Bauchschmerzen, Durchfall und Blähungen und müssen, da sich ihre Dünndarmzotten nach dem Verzehr glutenhaltiger Nahrungsmittel entzünden, ihr Leben lang auf glutenhaltige Getreideprodukte verzichten. Mediziner können mittels einer Endoskopie (Dünndarmspiegelung) und Biopsie sowie speziellen Bluttests die Diagnose stellen.

Bei Gesunden wird die Nahrung im Dünndarm verdaut, anschließend werden die Nährstoffe über das Blut in die verschiedenen Organe transportiert. Bei einer Zöliakie ist die Aufnahme einzelner oder mehrerer Nährstoffe über die Dünndarmschleimhaut beeinträchtigt, da sie entzündet ist. Der Verzehr von glutenhaltigen Lebensmitteln wie Weizen, Roggen oder Gerste führt bei Zöliakie-Erkrankten im Dünndarm zu eben dieser Entzündung, die in der Folge die Dünndarmschleimhaut dauerhaft schädigt. Solange glutenhaltige Nahrungsmittel zugeführt werden, heilt die Entzündung nicht ab und Nährstoffunterversorgungen können für Betroffene eine der Folgen sein. Erst wenn sie glutenhaltige Produkte konsequent vom Speiseplan streichen, bessert sich ihr Zustand.

Wissenschaftler diskutieren nun seit einiger Zeit über verschiedene Ausprägungen der Glutenunverträglichkeit. Denn bei einigen Patienten war zu beobachten, dass sie nach dem Verzehr von Pizza, Pasta oder Brot Verdauungsprobleme oder andere Beschwerden hatten, ohne dass bei Untersuchungen Schleimhautschäden oder entzündete Darmzotten wie bei der Zöliakie festgestellt werden konnten. Für die Beschwerden dieser Betroffenen gab es keinen medizinischen Befund. Auch variierte bei manchen die Unverträglichkeit: manchmal waren die Begleiterscheinungen nach dem Konsum glutenhaltiger Lebensmittel weniger, manchmal waren sie stärker ausgeprägt. Für Ärzte erschwert das die Diagnose, da sie nur über Beobachtung, und nicht über griffige Laborwerte erbracht werden kann. Manche werteten die Glutensensitivität deshalb lange als Mode-Diagnose ab und zweifelten an ihrer Existenz. Andere suchten Erklärungen dafür, wodurch die unerwünschten Effekte denn nun verursacht werden könnten, wenn es sich nicht um eine „echte“ Zöliakie handelt.

An der Uniklinik Mainz isolierten Forscher beispielsweise eine neue Gruppe von Proteinen: Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATI), welche in Getreide-Hochleistungssorten gezielt hineingezüchtet wurden, um das Korn resistenter gegen Schädlinge zu machen. Sie sind Begleitstoffe des Glutens. Da diese Stoffe in ursprünglichen Getreidesorten nicht vorhanden sind, vermuten die Mainzer Experten, dass diese Proteine die Auslöser für die zunehmenden Beschwerden sein könnten. Die Züchtung von Getreide auf besonders hohe Erträge wäre demnach letztlich für die Beschwerden verantwortlich. Dem Hohenheimer Ernährungsmediziner Stephan Bischoff zufolge gilt diese Vermutung als die wahrscheinlichste im Moment.

Die Glutensensitivität ist keine Allergie

Die Reaktion bei einer Glutensensitivität könnte also nicht aufgrund des Glutens an sich, sondern wegen der mit dem Gluten assoziierten ATI erfolgen und sich daher von einer Zöliakie oder einer Allergie unterscheiden. Ist die Diagnose Zöliakie sowie eine Weizenallergie sicher ausgeschlossen, werden Patienten, die auf eine Glutensensitivität hin untersucht werden sollen, dazu angehalten, einige Zeit bewusst auf glutenhaltige Produkte zu verzichten und Buch über ihre Ernährung zu führen. Dann folgt ein Test, eine sogenannte verblendete Provokation, bei der die Patienten einmal ein hochkonzentriertes Glutenprodukt verzehren, beim anderen Mal ein Placebo. Eine klare Diagnose ist laut Bischoff jedoch schwierig. Je nachdem, wie viel glutenhaltige Produkte die Betroffenen konsumieren, variieren auch ihre Beschwerdegrade.

Ob es derzeit tatsächlich vermehrt zu Unverträglichkeiten nach dem Verzehr von Getreideprodukten kommt, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen. Erfahrungswerte einiger Mediziner sprechen dafür. „Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Glutensensitivität zunimmt, ist damit der Boom an glutenfreien Produkten dennoch nicht nachvollziehbar“, sagt der Ernährungsmediziner Bischoff. Der Markt mit glutenfreien Produkten, die mit einer durchgestrichene Ähre gekennzeichnet werden, treibt bisweilen seltsame Blüten: nach Angaben der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg liegt auch Hartkäse mit der Bezeichnung „glutenfrei“ im Regal, obwohl er von Natur aus kein Gluten enthält. Die Produkte sind zudem teurer und ursprünglich für Patienten gedacht, die tatsächlich streng auf Gluten verzichten müssen. Nach Angaben der Verbraucherzentrale greifen dennoch auch immer häufiger Gesunde zu den Produkten, weil sie vermuten, sich damit etwas Gutes zu tun. „ Bei gesunden Erwachsenen schaden die Spezialprodukte dem Geldbeutel, ohne einen positiven Nutzen zu bringen, und bei Kindern können Nährstoffunterversorgungen die Folge sein“, sagt Bischoff.

Selbst für Betroffene, bei denen eine Glutensensitivität wahrscheinlich ist, ist es Bischoff zufolge nicht nötig, komplett auf glutenhaltige Lebensmittel zu verzichten, denn meist werden gewisse Mengen an Gluten vom Organismus toleriert. Auch sind keine schwerwiegenden Folgeschäden wie bei der Zöliakie zu erwarten. Die Einschränkung beeinflusst jedenfalls das soziale Leben, beispielsweise Einladungen zum Essen. „Den meisten kann es aber schon helfen, wenn sie Brot und Nudeln durch glutenfreie Lebensmittel ersetzen“, so Bischoff. Glutenfrei sind beispielsweise Reis, Mais, Hirse, Buchweizen, Soja, Sesam, Kartoffeln, Quinoa, Amarant, Obst, Gemüse und Nüsse.

In den USA ist die glutenfreie Ernährung zumindest unter den Stars zu einem Trend avanciert. In bunten Blättchen berichten sie davon, dank glutenfreier Ernährung fitter, schlanker und schöner geworden zu sein. Experten schätzen, dass sich dort mittlerweile 60 Millionen Menschen glutenfrei ernähren. Der Trend hat auch Deutschland erreicht. „Glutenfreie Ernährung ist zu einer Volksbewegung in Eigenregie geworden“, sagt Stephan Bischoff. Positive Effekte in Bezug auf das Körpergewicht kann sich der Ernährungsmediziner Bischoff zwar vorstellen. „Das ist der klassische Placebo-Effekt: eine Gewichtsreduktion kann daher rühren, dass bei einer glutenfreien Ernährung zugleich weniger Kohlenhydrate verzehrt werden“. Als Diät-Variante sei der Getreideverzicht aber dennoch nicht sinnvoll. „Weizen und anderes Getreide ist für Gesunde nicht schlecht. Der Großteil der Menschen dürfte mit der Verträglichkeit auch keine Schwierigkeiten haben. Warum darauf verzichten und sich einschränken?“