Der Stuttgarter Gökay Sofuoglu, Bundes- und Landesvorsitzender der Türkischen Gemeinde, drängt die Bundesregierung, auf das Machtstreben von Staatschef Erdogan entschlossener zu reagieren. In der Türkei sieht er mittlerweile eine hochexplosive Situation.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Der Stuttgarter Gökay Sofuoglu (54) wirft den Nationalisten in der Türkei vor, eine „große Explosion in der Bevölkerung“ zu provozieren.

 
Herr Sofuoglu, steuert die Türkei auf eine Diktatur zu – oder ist sie schon mittendrin?
Wir sind schon mittendrin in der Diktatur – es ist eine ganz gefährliche Situation. An jedem Tag kommt es zu neuen Festnahmen. Ich kenne zwei verhaftete Journalisten von „Cumhuriyet“, die zuvor in Deutschland gelebt habe, ganz gut. Jetzt habe ich gar keinen Kontakt zu ihnen – auch nicht zu ihren Ehefrauen. Die Leute haben einfach Angst, über Telefon Informationen auszutauschen. Wer morgen festgenommen wird, weiß man nicht. Man ist mittlerweile auf alles gefasst. Mit Demokratieverständnis hat es nichts mehr zu tun, wenn all die Festnahmen von der Regierung im größten Teil der Medien als normal deklariert werden.
Glauben Sie, dass das Parlament die Todesstrafe beschließen würde, wenn Erdogan den Gesetzentwurf einbringt?
Um die Verfassung zu ändern, bräuchte Erdogan eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Allein um ein Referendum abzuhalten, reicht die einfache Mehrheit im Parlament. Das will Erdogan auch, weil das Referendum eine Abstimmung über das Präsidialsystem beinhalten würde. Diesen Prozess würde er dazu nutzen, um seinen Machtanspruch auszuweiten.
Würde die Wiedereinführung der Todesstrafe die Hinrichtung der verhafteten Oppositionellen zur Folge haben?
Juristisch betrachtet kann Erdogan eine künftige Gesetzgebung nicht rückwirkend vollstrecken. Deswegen ist das eher eine Polemik von Erdogan, um die Stimmung der nationalistisch-konservativen Kreise zu nutzen und die Unterstützung für sein Präsidialsystem zu erhöhen. Die rechtsnationale Oppositionspartei MHP, also die nationalistische Partei, gibt in der Türkei inzwischen die Richtung vor, gegen Kurden vorzugehen und die Abgeordneten festzunehmen. Das macht Erdogan wohlwollend, weil er deren Unterstützung braucht.
Auch der Druck auf die Kurden wird verschärft. Droht die Türkei im Südosten in einen Bürgerkrieg zu verfallen?
Nicht nur im Südosten. Das wird insgesamt in der Türkei provoziert – mit einer großen Explosionsgefahr innerhalb der Bevölkerung.
Ein Teil der Kurden versucht den Protest, auch nach Deutschland zu tragen – wie gerade vor dem türkischen Generalkonsulat in Stuttgart. Wird sich der Protest radikalisieren und den Konflikt auch hierzulande eskalieren lassen – mit Anschlägen etwa?
Ich hoffe, dass die Kurden mit friedlichen Demonstrationen versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen – ohne Anschläge.
Erdogan wirft Deutschland vor, Terroristen Unterschlupf zu bieten, statt „rassistische Übergriffe gegen Türken“ zu verhindern. Wie denken Sie darüber?
Das ist seine Taktik, Feindbilder zu schaffen, um die Unterstützung im Innern zu erhöhen – nun sind Deutschland und Europa die Feindbilder. Das tut er immer wieder.
Justizminister Bozdag rügt, Rechtsstaat und Freiheiten gebe es in Deutschland nur für Deutsche, nicht aber für Türken. Glauben dies viele Türken hierzulande?
Was die Aufklärung der NSU-Morde angeht, glauben etliche, dass die Angriffe auf Türken nicht ernst genug genommen werden. Dass die Türken keine Rechte in Deutschland hätten, wird hier aber nicht so wahrgenommen, wenn man genauer mit ihnen darüber spricht. Ich kann als Vorsitzender der Türkischen Gemeinde die Bundeskanzlerin vehement kritisieren und werde nicht deswegen verhaftet oder angeklagt, sondern eingeladen, um mit ihr über meine Kritikpunkte zu reden.