Während die einen unter Polizeibegleitung einkaufen müssen oder friedlich gegen den Neonazi-Aufmarsch demonstrieren – von dem nichts zu sehen ist – mäandern Horden durch die Straßen und liefern sich Scharmützel mit den Ordnungskräften.

Region: Andreas Pflüger (eas)

Göppingen - Eine junge Frau schiebt ihren Kinderwagen durch die Lange Straße. Sie drückt sich an die Hauswand, weil ihr ein Trupp Polizisten entgegenstürmt. Hinter dem Schaufenster einer Boutique steht ein Verkäufer – kopfschüttelnd. Seine Kollegin blickt fassungslos ins Freie, wo gerade einige Jugendliche in Richtung Fußgängerzone rennen. Sekunden später folgen weitere behelmte Polizeibeamte in Kampfmontur. „Das ist das gleiche Katz- und-Maus-Spiel wie im vergangenen Jahr“, sagt ein Passant, der die Neonazi-Demonstration und die Gegenproteste linker und autonomer Kräfte offensichtlich auch im vergangenen Oktober beobachtet hatte.

 

Einmal mehr haben sich in Göppingen am vergangenen Samstag bizarre Szenen abgespielt, die bei der Bevölkerung auf allergrößten Unmut und noch größeres Unverständnis stießen. Das normale Leben fand schlicht nicht statt. In Geschäften, die ihre Türen trotz des vorhersehbaren Ausnahmezustands aufgesperrt hatten, stand sich das Personal die Beine in den Bauch. Die Kunden hätten per Handschlag begrüßt werden können. Anwohner mussten sich gleich mehrfach ausweisen, wenn sie denn überhaupt zu ihren Häusern gelassen wurden. Die Dauermieter im Parkhaus an der Bahnhofstraße konnten ihren fahrbahren Untersatz nicht benutzen. Andere hatten Angst um ihre Autos, die sie, ohne an die mäandernden Horden zu denken, in den abgesperrten Straßen abgestellt hatten.

Manche Jugendliche bekommen unversehens Tränengas ab

Friedlich blieb indes die Kundgebung des Bündnisses Kreis Göppingen nazifrei auf dem Marktplatz. Dort erklärte nicht nur der im Vorfeld der Veranstaltung mit einer Morddrohung konfrontierte Bündnissprecher Alex Maier, „dass ein deutliches und lautes Signal an die Neofaschisten gesendet werden muss, dass sie hier in Göppingen keinen Platz haben“. Auch weitere Redner, darunter der Göppinger OB Guido Till, der Landrat Edgar Wolff, der Grünen-Bundestagsabgeordnete Chris Kühn und der SPD-Landtagsabgeordnete Sascha Binder, bezogen mit deutlichen Worten Stellung gegen den rechten Spuk.

Die in der Unteren Marktstraße aufgebaute „Straße der Demokratie“ litt zunächst unter dem einsetzenden Regen. Zahlreiche Parteien, Gewerkschaften und Organisationen hatten Informationsstände und Transparente aufgestellt, um ihrerseits deutlich zu machen, was sie von den Neonazis halten: nämlich nichts. Und doch wollte das friedliche Tun nicht so recht zu dem passen, was sich nur einige Meter weiter abspielte. Denn während bei der IG Metall Jugendliche auf eine Toleranz-Torwand schossen, mussten sich andere Jugendliche, dort wo die „Straße der Demo- kratie“ offenbar zu Ende war, von der Polizei einkesseln oder gar ihre Platzwunden und ihre durch Pfefferspray tränenden Augen von Sanitätern behandeln lassen.

Nazis gucken“ als Hobby

Wer, wie einige Teenies in der Geislinger Straße, lediglich zum „Nazisgucken“ gekommen war, wurde derweil enttäuscht. Sichtschutzbarrieren und weiträumige Absperrungen verhinderten weitgehend, dass von den Rechtsradikalen und ihren Parolen etwas zu sehen oder zu hören war. Eine Beobachterin fühlte sich an ihren Besuch bei den Eisbären im Zoo erinnert. „Ein hoher Zaun, an dem viele Menschen stehen, dahinter eine weites Nichts, und irgendwo in der Ferne bewegt sich das eigentliche Objekt der Begierde“, sagte sie.

Weit weniger Verständnis für diesen „Schwachsinn“ zeigte ein 50-Jähriger aus Uhingen, der am Vormittag seine letzten Einkäufe auf dem Wochenmarkt unter Polizeibegleitung getätigt hatte. „Ich halte das Demonstrationsrecht und das Recht, seine Meinung frei zu äußern, wirklich für ein hohes Gut der Demokratie. Wenn man diesen Aufwand hier sieht, sollten Richter, gerade in einer Demokratie, aber schon einmal nach den wirklichen Gründen fragen, weshalb die hier aufmarschieren und bei ihrer Beurteilung auch die Verhältnismäßigkeit berücksichtigen“, schimpfte er.

Am Sonntag ist es, ob nichts gewesen wäre

Von einigen auf dem nassen Boden klebenden Flugblättern, diversen Schmierereien an den Wänden und stehen gelassenen Plakaten einmal abgesehen, erinnert gestern Morgen nichts mehr an das wilde Treiben des Vortags. Menschen schlendern durch die wärmende Morgensonne, setzen sich in die wieder geöffneten Bars, trinken ihren Kaffee und unterhalten sich: über ihre Familien, ihren jüngsten Sporthallenbesuch und auch darüber, ob Göppingen im nächsten Jahr wohl wieder einen ähnlich chaotischen Tag wird erleben müssen.– Verletzte bei Protesten