Im Schauspiel Stuttgart ist Werther heutig: Als hemmungslos Liebender passt er in Simon Solbergs Inszenierung nicht in die Leistungsgesellschaft.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Der Mann ist krank. Die Pflichten lässt er schleifen, die Gedanken sind wirr, das Herz rast, er spricht wie im Fieber. Was Werther auch anpackt, alles auf der Welt sieht er nur noch „im Verhältnisse mit ihr“ – Lotte, Lotte, Lotte! Die Weltliteratur kennt viele Liebende, aber keiner der glücklosen Schmachtenden hat sich so heißblütig und wahnhaft dem Sehnen hingegeben wie Werther. Stapelweise Briefe schreibt er in Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“. Es sind flammende Dokumente eines Mannes, den die Liebe schließlich zur völligen Selbstaufgabe treibt. Am Ende nimmt Werther die Pistole und jagt sich eine Kugel in den Kopf. „Es schlägt zwölfe!“, so seine letzten Worte, „Lotte, lebe wohl!“

 

Als Goethe seinen Briefroman 1774 veröffentlichte, avancierte er sofort zum Bestseller, weil dieser hemmungslose Gefühlsmensch Werther so gar nicht ins Comme-il- faut der bürgerlichen Ordnung passte. Aber auch in der heutigen auf Leistung und Profit abonnierten Zeit scheint ein schwärmerisch Liebender, erst recht ein männlicher, keinen Platz zu haben.

Der Regisseur Simon Solberg zumindest hält die Liebe für eine lächerliche Angelegenheit. Er hat am Schauspiel Stuttgart „Die Leiden des jungen Werther“ für die Bühne adaptiert und im Schauspielhaus den Briefroman inszeniert als atemloses, humoristisches Spektakel. Es darf gelacht werden über dieses „fühlende Herz“. Denn ist die bedingungslose Liebe nicht nur eine lächerliche Grille, eine Marotte, die in Film, Musik und auf der Bühne Berechtigung haben mag, aber, bitte, nicht im auf Effizienz gebürsteten Alltag?

Durchgeknallte Bürohengste

Simon Solberg versetzt den leidenden Werther mitten hinein in ebendiesen schnöden Alltag. Er siedelt seine Inszenierung nicht im 18. Jahrhundert an, nicht in der dörflichen Idylle, der bürgerlichen Ordnung, der Epoche des Sturm und Drang, sondern die Ausstatterinnen Maike Storf und Christina Schmitt haben eine miefige Amtsstube entworfen mit Resopalschreibtischen und Aktenregalen, Teeküche und Kopierer. Statt Vorgänge zu verwalten, klettern die Bürohengste auf die Tische, singen, tanzen und proben den Aufstand: „Soll ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere abarbeiten, auf der ich nun angeschmiedet bin?“, fragt einer, der fortan den Werther spielen wird: ausgerechnet der verschrobene Schlaks, der ewige Außenseiter, der Bürotrottel.

Über diesen Kunstgriff holt Simon Solberg den Text ins Hier und Jetzt und spiegelt den „Werther“ in der Gegenwart. „Ich ziehe in den Krieg“, sagt Werther, und prompt werden aktuelle Kriegsszenen eingeblendet. Die Schauspieler demontieren die Verwaltungsstube sukzessive und nutzen alles und jedes, um ihr Schmierentheater zu illustrieren. Gummibäume simulieren Natur, dann klemmt Werther seinen Schädel im Kopierer ein.

Das kranke Herz marschiert über die Bühne

Diese übermütigen Einfälle nehmen den Text oft sogar wörtlich: „Ich halte mein Herzchen wie ein krankes Kind“, sagt Werther – und tatsächlich marschiert sein Herz über die Bühne, dargestellt von einem Kind mit wattierter roter Hose. Er fühle sich wie eine Marionette, klagt Werther ein anderes Mal – und so biegt und beugt sich der Schauspieler Ole Lagerpusch, als steckten ihm keine Knochen im Leib, als sei er nur eine wabernde Masse, die sich willfährig dem Strudel der Gefühle hingibt.

Immer aufgedrehter und lauter wird das zweistündige Spektakel, das Sven Kaiser versiert musikalisch untermalt mit Anklängen an Wagners Walkürenritt und Michael Jackson, an „I can’t live if living is without you“ und „Du bist das Beste, was mir je passiert ist“. Hanna Plaß, Matti Krause und Gunnar Teuber wechseln permanent Rollen und Kostüme. Mal spielen sie in Slowmotion, mal jagen sie wie auf der Safari wilde Tiere – und obwohl die zentralen Textpassagen bestehen bleiben und Goethes Geist durch den Abend weht, ist eine ganz eigenständige Bühnenadaption entstanden, die sich dem Roman und dem Theater gleichermaßen verpflichtet fühlt.

In diesem wilden Spektakel fällt kaum auf, dass es einige dramaturgische Stolperfallen und Unschärfen gibt. Auch die Figur der Lotte (Julischka Eichel) bleibt blass, die Hingabe, mit der sie die kleinen Geschwister versorgt, ist gänzlich gestrichen und auf den Ausruf „Veschber“ reduziert worden. Es lässt sich nicht im Ansatz ahnen, was Werther in diesem „Engel“ sieht. Aber Liebe macht eben blind, was Werther für „so vollkommen“ hält, ist nichts als eine durchschnittliche junge Frau, ein kokettes Kätzchen, unreif, verspielt wie Werther selbst letztlich auch.

Der Regisseur hält Lotte für ein Abbild Europas

Lotte, erklärt Simon Solberg im Programmheft, sei für ihn „Europa“, „aufgerieben zwischen humanistischen Grundwerten, dem Wunsch nach Wertschätzung und dem kompletten Ausverkauf der totalen Marktwirtschaft“. In Albert sieht er nicht nur den Nebenbuhler, sondern er repräsentiert für ihn „die erste Welt, den Westen“. Dieser „brave, liebe Mann“ wird hier zu einem skrupellosen Profiteur, der die Wälder abholzt und Tiere niedermetzelt, um schließlich einen dicken Scheck an die „Albert-Stiftung“ zu überreichen. Gut, dass Solberg seine etwas waghalsigen Thesen auf der Bühne nicht allzu stark ausgereizt hat, sondern sich damit begnügt, die bürgerliche Ordnung der Goethe-Zeit durch die Zwänge des Profits zu ersetzen. Während sich Werther seinem Herzschmerz hingibt, singen die anderen „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“.

Aber Simon Solberg ist eben auch ein Kind seiner Zeit. Er kritisiert zwar mit Werther die Zwänge der Gesellschaft, bricht deshalb aber noch lange keine Lanze für die Liebe und die Unvernunft des Herzens. Goethe, der im Werther auch biografische Erlebnisse verarbeitete, hatte Mitgefühl für seinen hemmungslos, ja wahnwitzig liebenden Helden. Solberg hat es nicht. Ob Werther nun krank oder der einzig Gesunde sei, wird er im Programmheft gefragt – aber statt sich zu einem Plädoyer für die zweckfreie und anarchistische Liebe hinreißen zu lassen, hält er sich dann doch lieber bedeckt: Das solle das Publikum besser selbst entscheiden.