Mit drei Uraufführungen von Stücken des Autors Fritz Kater geht Armin Petras’ Ära amBerliner Maxim-Gorki-Theater zu Ende. Zur nächsten Spielzeit übernimmt Petras die Intendanz des Stuttgarter Staatstheaters.

Berlin - Ein weißes, hilfloses Bündel liegt auf der leeren Bühne, die mit einem fadgrünen, halbhohen Samtvorhang ausgeschlagen ist. Der Mann in der langen weißen Unterwäsche ist ein aussichtsloser Pflegefall. Mit Mühe kann er noch aufstehen, aber dann muss man sich gleich Sorgen machen, dass er irgendwas umrennt oder sich verletzt. Dinge klar erkennen, zielstrebig handeln, sich verständlich äußern – das war einmal.

 

Früher heiß so etwas Altersschwachsinn, heute pseudowissenschaftlich Demenz. Schreckbild einer Gesellschaft, die statistisch immer älter wird. Kehrseite des medizinischen Fortschritts, der dafür sorgt, dass immer weniger Leute sterben, ehe der Tod auf Raten beginnt. Die Gesellschaft ist darauf schlecht vorbereitet. Wer sich um einen Angehörigen mit Gedächtnisverlust kümmert, kann seine Lebens- und Karrierepläne vergessen. Der Staat zieht sich aus der Affäre, indem er seit Januar jedem 60 Euro zuzahlt, der eine private Pflegeversicherung abschließt. Wieder wird ein drängendes Problem der Gesamtgesellschaft privatisiert.

Wenn das Theater sich als Ort der Selbstaufklärung einer Gesellschaft versteht, dann gehört das Thema Demenz auf die Bühne, keine Frage. Aber wie? Armin Petras, der künftige Chef des Stuttgarter Staatsschauspiels, ist nicht der Intendant, der reflexartig Shakespeares „König Lear“ auf den Spielplan setzt und die Theatermaschinerie einfach weiterlaufen lässt. Er hat mit seinen Schauspielern ein Geriatriezentrum in Berlin besucht und sie in Alterssimulationsanzüge schlüpfen lassen, um herauszufinden, wie es ist, wenn die Gelenke, Muskeln und Augen versagen. Bei seinem Alter Ego, dem Dramatiker Fritz Kater, gab der Regisseur Armin Petras ein Stück zum Thema in Auftrag. Kater lieferte eine Collage aus kleinen Versatzstücken, gespeist aus Erfahrungsberichten und Demenzdiskurssplittern.

Miniszenen aus einem Altersheim

Fünf Schauspieler und der Musiker Miles Perkin tasten sich auf leerer Bühne an das heikle Thema heran. Zu dem hilflosen Mann in weißer Anstaltskleidung (Thomas Lawinky) gesellen sich ein geistig verwirrter Radfahrer (Michael Klammer), Stressgeschädigte (Peter Kurth), Angehörige und Ärzte. Mit vorgeschnallten Theaterbäuchen wechseln die Akteure drollig Perücken, Brillen und Haltungen, reden in abgerissenen Sätzen, spielen Miniszenen aus einem Altersheim. Keine zusammenhängende Geschichte, auch keine Fallstudien wie in Peter Brooks’ Inszenierung „L’Homme qui“, die auf Schilderungen über Hirngeschädigte basierte.

Und doch hat Katers theatralische Collage eine erkennbare Richtung. Sie läuft paradoxerweise auf eine Entdramatisierung des Themas Demenz hinaus. „Sie nennen es Krankheit, ich nenne es Altern“, lautet ein Schlüsselsatz. Das Altern ist für jeden so unausweichlich wie der Tod. Beides ist eine Zumutung, aber eben auch etwas, das Menschen verbindet.

Mit der Diagnose Demenz werden die Alterungssymptome aus dem Alltag ausgegliedert und an die Ärzte, Gesundheitspolitiker und die Medizinindustrie delegiert. Diese Mythenbildung der Leistungsgesellschaft unterläuft das Petras-Theater, indem es den geistigen Verfall der Alternden liebevoll und lustbetont nachstellt. So billigt es dem weißen Menschenbündel eine poetische Innenwelt zu, die sich am Ende mitteilt, als es viele, viele Schmetterlingsnamen ins Publikum spricht: „Schwarzer Falter, nimm mich mit / Ein Schnitt“.

Eine neue Volkskrankheit

Während des Monologs wird die Bühne (Annette Riedel) für das zweite Stück des Abends umgebaut. Vor einem halbtransparenten Vorhang, gegen den von hinten Theaterregen prasselt, erzählt ein Paar die Geschichte seiner Ehe. Er, der Spitzensportler (Michael Klammer) steckt in einem viel zu eleganten schwarzen Anzug, an seiner Seite eine extrem hübsche und lebenslustige Spielerfrau (Aenne Schwarz) – ein sympathisches Paar. Der Mann macht Karriere als Torwart, die Frau hat einen Hundefimmel und bringt ein krankes Kind zu Welt, doch das ständige Auf und Ab in Beruf und Beziehung führt bei dem Sportidol nicht zur Festigung der Persönlichkeit. Er kann seine psychischen Störungen nicht öffentlich machen und stürzt sich wie das reale Vorbild Robert Enke unter einen Zug.

Die Öffentlichkeit nennt das jetzt Depression und entdeckt eine neue Volkskrankheit. Diese Pathologisierung von möglicherweise ganz normalem Leistungsversagen versieht die Aufführung mit einem dicken Fragezeichen: Es bleibt ziemlich offen, ob der Torwart einfach durch psychische Disposition und Schicksalsschläge aus der Bahn geworfen wurde oder durch die Überanpassung an ein gnadenloses Leistungsprinzip.

Als drittes brisantes Thema hat Petras neben Demenz und Depression die Revolution identifiziert, ausgelöst durch den arabischen Frühling. Im dritten Stück führt eine sprunghafte Zeitreise zurück in den Prager Frühling des Jahres 1968, basierend auf Aufzeichnungen des tschechischen Filmemachers Pavel Jurácek. In Katers Stück „Tagebuch eines Revolutionärs/Versuch einer Fälschung“ heißt die Hauptfigur Pawel. Als geschwätzigen und unerträglichen Monomanen stellt ihn zunächst Thomas Lawinky vor, später tauscht er die Rolle mit Christin König und Svenja Liesau, die zunächst Pawels Tochter Judika und eine krebskranke Geliebte verkörpern. Im Hintergrund flimmern Videos vom Prager Wenzelsplatz während der Demonstrationen und ihrer Niederschlagung durch sowjetische Panzer.

Das Aha-Erlebnis bleibt aus – macht nichts

Pawel ist viel zu sehr mit sich und seinem Filmprojekt beschäftigt, um in die Revolution einzutauchen, kann sich ihr aber auch nicht entziehen. Die Inszenierung selbst wird immer stärker zu einem Happening mit lustigem Mummenschanz, zu einer Hommage an die entfesselte Kunst der späten 1960er Jahre – und damit zu einer Absage an die latente Erwartung, der fast vierstündige Theaterabend werde sich zuletzt doch noch zu einem großartigen Aha-Erlebnis aufschwingen.

Demenz, Depression und Revolution stellen das herrschende Leistungsprinzip in Frage, auch auf dem Theater. In seiner letzten großen Berliner Inszenierung vor dem Wechsel nach Stuttgart zeigt Armin Petras wenig Lust, irgendwelche Erwartungen an sein Theater zu erfüllen. Er weiß ja, es funktioniert anders, eher durch das Loslassen scheinbarer Gewissheiten. Wie ungezwungen wirken seine Schauspieler, wie gelöst und verwandlungsfähig, wie gerne schaut man ihnen zu! Stuttgart darf sich auf einen Theaterchef freuen, der sein Haus maximal durchlässig für das machen wird, was in der Welt vorgeht.