Das Landgericht verhandelt gegen einen 50-Jährigen, weil er Kinder mit einem Messer bedroht hat. Er wollte einen Ball.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Grafenau - Die Frage nach dem Alkohol ist schon mehrfach gestellt worden, und sie wird noch mehrfach gestellt werden. „Nein“, antwortet die Zeugin, eine Polizistin, während der Vernehmung sei der Angeklagte „nicht angetrunken“ gewesen, „jedenfalls nicht augenscheinlich, er war sehr konzentriert“. Gemessen daran, was über den 50-Jährigen in Gerichtsakten zu lesen ist, wäre dies eine Ausnahme. „Er war besoffen.“ In dieser Deutlichkeit formuliert es ein Polizist, der am Tatort ermittelt hat. „Das habe ich aus den Aussagen der Geschädigten geschlossen.“

 

Das Stuttgarter Landgericht verhandelt gegen den 50-jährigen Mann wegen räuberischer Erpressung. Mit einiger Wahrscheinlichkeit hätte die Akte nie ein Richter in die Hand genommen, denn der Tatablauf ist banal – wären die Opfer keine Kinder gewesen.

Die meisten beachteten den Mann aus dem Gebüsch nicht

Am 17. Juli vergangenen Jahres war die Verwandtschaft zu Besuch bei einer Familie in Grafenau. Die Kinder wollten ins Freie. Die Jungs gingen auf einen Bolzplatz zum Kicken. Die Mädchen giggelten ein Stück abseits. Die Gruppen vereinten sich wieder und wollten Eis kaufen, an einer Tankstelle drüben hinter der Brücke. Der Tross zog los. Einen Mann, der aus dem Gebüsch kam, beachteten die meisten der Kinder nicht. Mit Ausnahme von drei Jungs. „Gib mir den Ball“, sagte der Unbekannte zu ihnen. Dann zückte er ein Taschenmesser und ging auf sie zu. Ein Junge rannte davon. Die beiden anderen, zehn und elf Jahre alt, wichen zurück. Er sei Soldat, sagte der Mann und drohte den Jungen, sie zu erstechen. Den Ball gaben sie trotzdem nicht her. Der Mann mit dem Messer überlegte es sich anders. „Dann kauft euch ein Eis“, sagte er und verschwand. An diesem Tag fahndete die Polizei vergeblich nach einem Verdächtigen.

Nun sitzen die Jungs im Zeugenstand und beantworten die Fragen des Vorsitzenden Richters Ulrich Tormählen. „Es kam mir vor, als ob er wirklich den Ball wollte“, sagt der heute Zwölfjährige. Der merkwürdige Angreifer habe gehumpelt, knallrot sei sein Gesicht gewesen, und er habe seltsam gesprochen. „Es klang wie Altdeutsch.“ Der zweite Junge steckt unter einer Baseballkappe. Er erzählt, dass der Mann mit dem Messer in der Hand anfangs fünf Meter entfernt gewesen sei, am Ende noch zwei Schritte.

Zwölfmal stand der 50-Jährige in den vergangenen Jahren vor Gericht

Der Rechtsanwalt Vincenzo Spitale verteidigt den Angeklagten in diesem Prozess nicht zum ersten Mal. Zwölfmal stand der 50-Jährige in den vergangenen Jahren vor Gericht. Die Polizei hatte wenig Mühe, ihn als Verdächtigen ausfindig zu machen. Eine Beamtin der Kriminalpolizei zeigte den Jungen Bilder von acht Männern, die der Beschreibung nach infrage kamen. Der Ältere deutete auf das Foto des Angeklagten. Der Jüngere konnte sich nicht endgültig zwischen diesem Bild und einem anderen entscheiden.

Die Situation, in der die Polizei einige Tage nach der Tat das Messer beschlagnahmte, die mutmaßliche Tatwaffe, schien typisch für den Angeklagten. Die Belegschaft eines Einkaufsmarktes hatte den Notruf gewählt, weil ein Mann Kunden beschimpfte. Nach einem warf er einen Schlüsselbund. Die Kundschaft hatte sich schon Tage zuvor über den Betrunkenen vor dem Markt beschwert.

Der Angeklagte stand bisher vor Gericht wegen: Sachbeschädigung – meist hatte er Autos verbeult oder verkratzt, wegen Beleidigung, Vandalismus, Diebstahls, Trunkenheit im Straßenverkehr, Hausfriedensbruchs und Körperverletzung. Denn beklagte sich jemand über sein Treiben, schlug er gelegentlich zu. Meist wurden mehrere Taten in einem Prozess abgeurteilt. Den Angriff auf die Kinder leugnet der 50-Jährige. „So etwas würde ich nie tun, ich bin Pazifist.“ So hatte er es bei der Polizei zu Protokoll gegeben.

Die Verfahren gegen den Serientäter endeten mal mit Geldstrafen, mal mit einigen Monaten Haft, aber auch mit Freispruch. Viermal urteilten Gerichte, der Angeklagte sei nicht schuldfähig, wegen einer psychischen Störung, gepaart mit Alkoholmissbrauch. Womöglich endet der aktuelle Prozess erneut nicht mit einem Schuldspruch. Das Landgericht muss auch darüber urteilen, ob der Angeklagte zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird.