Im Urteil vieler Finanzexperten kommt der große Schock in Großbritannien erst noch – mit fatalen Folgen für London.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Die Briten wollen sich ihren Sommer nicht vermiesen lassen durch endlose Warnungen. Zu Weihnachten ist immer noch Zeit, Bilanz zu ziehen – und zu sehen, was für eine Art von Bescherung es nach dem Brexit-Votum vom 23.Juni gibt. Den Juli über haben die Ladenkassen im Vereinigten Königreich jedenfalls munter geklingelt. Gegenüber dem Juli des Vorjahrs lagen die Verkaufs-Zahlen um sechs Prozent höher. Eingekauft wird, Kleider vor allem, auch wenn sich viele Käufer bei näherer Erkundigung „etwas mulmig“ fühlen. Vielleicht ist es gerade diese bange Vorahnung, die zum Shopping reizt, „solange die Sonne scheint“ und der Kredit noch reicht und die Zinsen niedrig liegen. Kneipen und Restaurants, zumal in London, erfreuen sich ebenfalls guten Zuspruchs.

 

Stark gesunkenes Pfund sorgt für Mini-Tourismus-Boom

Viel zu sehen von den Brexit-Folgen ist an der Themse nicht. Das ist kein Wunder. Das stark gesunkene Pfund hat auch für einen Mini-Tourismus-Boom gesorgt. Für Besucher ist ein England-Urlaub plötzlich erschwinglicher geworden. Händler für Luxusware berichten von Großeinkäufen durch auswärtige Gäste. 17 Prozent mehr an Uhren und Schmuck wurde im Juli verkauft als im gleichen Monat vorigen Jahres. Viele Einheimische verbringen ihren Sommerurlaub wiederum statt auf dem Kontinent daheim. Auch das hält die britische Wirtschaft in Gang. Zugleich hat sich die Zahl der Arbeitslosen bisher nicht, wie man erwartete, erhöht, sondern sogar leicht vermindert. Für den rechtskonservativen und anti-europäischen Daily Telegraph, Englands auflagenstärkste seriöse Zeitung, ist das ein klares Zeichen dafür, dass „der Brexit-Schock vorüber“ ist und man aufatmen darf. Laut Ratings-Agentur Moody’s, berichtet der Telegraph, werde der Brexit-Beschluss „nur eine relativ geringe Wirkung“ haben auf die britische Wirtschaft.

Tausende von Firmen im Königreich erwägen, Einstellungen zu drosseln

Doch nicht mal im Lager der Tory-treuen Presse herrscht darüber Einigkeit. Die Londoner Times, beim Referendum vor zwei Monaten eher unschlüssig, schaut einiges pessimistischer in die Welt. „Sterling sinkt“, meldete die Times vor ein paar Tagen, „während die Märkte sich wappnen für die Wahrheit in Sachen Brexit“. Ein Weilchen dauern werde es wahrscheinlich noch, bis man das realistisch abschätzen könne, meinen die Skeptiker im Königreich. Die Anzeichen aber seien da, für eine schwierige Zeit. Das beginnt mit der Inflation, die bereits leicht steigt und bald schon kräftig steigen dürfte – weil das Absacken des Pfundes Importe notwendig teurer macht. „Wenn wir etwas weiter voraus schauen“, meint der Industriellenverband CBI, „erwarten wir schwächeren Konsum. Waren werden im kommenden Jahr, schon wegen des gesunkenen Pfundkurses, teurer werden. Das wird die Kaufkraft vieler Haushalte treffen.“ Auch den Arbeitslosen-Zahlen sagen City-Leute einen baldigen Anstieg voraus. Unternehmens-Umfragen zufolge erwägen Tausende von Firmen im Königreich, Einstellungen zu drosseln oder ganz auf sie zu verzichten. Ian Brinkley, Chef-Ökonom des Instituts für Personaleinstellungen CIPD, ist zum Schluss gekommen, dass nach einer Phase trotzigen „business as usual“ sich nun „die Anzeichen verdichten, dass Organisationen vor allem im privaten Sektor die Luken dicht zu machen beginnen“.

London hat am meisten zu verlieren

Die englische Zentralbank, die Bank of England (BoE), prophezeit, dass sich die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr deutlich erhöhen wird. Eine Viertelmillion Menschen könnten in den nächsten zwei Jahren ihre Arbeitsplätze verlieren. Ihre Voraussage fürs Wirtschaftswachstum 2017 hat die Bank Anfang dieses Monats schon revidiert, von 2,3 Prozent im Mai auf 0,8 Prozent. Inzwischen haben sämtliche bedeutenden Finanzinstitute der City of London ihre Wachstums-Erwartungen dramatisch gesenkt. Einige, wie Barclays Capital und Nomura, sagen sogar eine Rezession auf der Insel voraus für diesen Winter. Renommierten Wirtschaftswissenschaftler sprechen von einer milden Rezession im Winterhalbjahr und von äußerst mageren Zuwachs-Raten für die Zeit danach, geringeren Steuereinnahmen, höherer Staatsverschuldung, Problemen überall. „Die meisten Firmen werden Investitionen zurück halten, bis sie etwas mehr Klarheit darüber haben, ob wir im Einheitsmarkt der EU bleiben werden oder nicht“, meint Samuel Tombs, Chefökonom für Pantheon Macroeconomics. Für den Fall, dass die Briten aussteigen, drohen immer mehr Großunternehmen und Finanz-Fonds mit Abzug von Kapital aus Britannien. Die Bank of America Merrill Lynch (BAML) hat ermittelt, dass die meisten Manager der größten europäischen Finanz-Fonds bei einer solchen Entwicklung riesige Summen abziehen würden aus dem Vereinigten Königreich. Banken und Konzerne drohen zugleich damit, bedeutende Teile ihrer Geschäfte in den EU-Bereich zu verlegen.

Am härtesten, darin sind sich die Experten auf der Insel einig, würden die Folgen eines Brexit von allen Teilen Britanniens die britische Hauptstadt treffen. „Die EU war von enormer Bedeutung für Londons Erfolg in den letzten Jahren“, meint der Thinktank Centre for Cities. London habe am meisten zu verlieren. Bei der Bank of England meint man, der Brexit-Beschluss habe „eine Staubwolke an ökonomischer Ungewissheit aufgewirbelt“. Die müsse sich erst einmal legen, bevor man den Schaden ins Auge fassen könne.