Zehntausende haben am Freitagabend in der Innenstadt gegen Stuttgart 21 demonstriert. Viele trugen Lichter in den Schlossgarten. Einige Aktivisten besetzten Bäume.

Digital Desk: Anja Treiber (atr)
Stuttgart - Am Freitagabend haben mehrere Zehntausend Menschen mit einer Großdemonstration durch die Innenstadt zum zweiten Mal innerhalb einer Woche gegen die Abrissarbeiten am Nordflügel des Hauptbahnhofs und das Schienenprojekt Stuttgart 21 protestiert. Die Veranstalter sprachen von 65.000 Demonstranten, die Polizei bezifferte die Teilnehmerzahl auf mehr als 30.000. Bei der Kundgebung habe es keine Probleme gegeben, hieß es am späten Abend.

Vor der Demonstration besetzten Aktivisten von Robin Wood im Schlossgarten zwei Bäume und bauten ein "Widerstandsbaumhaus". Zahlreiche Demonstranten brachten zur Kundgebung Lampions, Laternen und Windlichter mit, die später den Schlossgarten erleuchteten.

Der Beginn der Protestaktion gegen 19 Uhr war nicht zu überhören: Beim einminütigen Schwabenstreich verursachten Zehntausende mit Trillerpfeifen, Vuvuzelas, Rasseln, Rätschen und anderen Gerätschaften einen infernalischen Lärm gegen das umstrittene Schienenprojekt.

Anschließend formierte sich ein langer Protestzug durch die Innenstadt. Die letzten Teilnehmer verließen den Schlossgarten erst fast eine Stunde nach der Spitze des Zuges. Die Route führte am Hauptbahnhof vorbei in die Friedrichstraße. "Aufhören, aufhören", skandierten die Demonstranten, als der bereits zum Teil abgerissene Nordflügel des denkmalgeschützten Bonatz-Baus passiert wurde.

"Steine kann man wieder aufbauen"


Die Stuttgarter Grünen-Stadträtin Clarissa Seitz hatte beim Auftakt im Schlossgarten die Abbrucharbeiten am Hauptbahnhof mit "der Zerstörung der einzigartigen Buddha-Statuen im Tal von Bamiyan in Afghanistan durch rückwärts gewandte, militante Taliban" verglichen. Mit der Verstümmelung des Bonatzbaus, der ein potenzielles Weltkulturerbe sei, mache Stuttgart weltweit negative Schlagzeilen. "Aber Steine kann man wieder aufbauen. Und das werden wir tun, wenn das Wahnsinnsprojekt beendet ist."

Am Nordflügel hatte es vor der Demonstration gegen 17 Uhr ein "Open-Air-Parlament für direkte Demokratie" gegeben, bei dem Bürger sich äußern konnten. Mitverfolgt wurden diese Vorträge auch von Teilnehmern der ersten Kunstführung vor dem Bauzaun. Über die Friedrichstraße (B27) marschierte der Protestzug zum Schlossplatz. Von dort zogen die Teilnehmer, von denen viele von außerhalb gekommen sind, weiter über die Planie und die Konrad-Adenauer-Straße bis zum Schlossgarten. Viele Plakate verbreiteten Zuversicht: "Im ganzen Ländle schallt es laut, Stuttgart21 wird nicht gebaut!" Als die ersten Demonstranten wieder den Schlossgarten erreichten, passierte das Ende des Zuges erst den Friedrichsbau. "Diese Demonstration ist unsere Antwort auf den nicht gewährten Bürgerentscheid", sagte ein Teilnehmer.

"Wir werden uns nicht über den Runden Tisch ziehen lassen", erklärte Winfried Wolf, Sprecher der Initiative Bahn für alle, bei der Abschlusskundgebung im dunklen Schlossgarten, den Lampions und Laternen in ein buntes Lichtermeer verwandelten. Der breite Bürgerprotest, der sich in Stuttgart formiert habe, sei beispielhaft. Stuttgart21 sei ein unsinniges Schienenprojekt.

Polizeieinsatz gegen Blockade


"Jetzt ist nicht mehr ein Abrisstopp unser Ziel, sondern ein Baustopp", sagte Gangolf Stocker, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart21. "Ab Montagmorgen darf sich nichts mehr auf dem Baugelände tun, sonst gibt es keine Gespräche." Es stelle sich die Frage, wer überhaupt noch gegen einen Baustopp sei, für den neben der Stuttgarter Bürgermeisterin Susanne Eisenmann längst auch andere Befürworter einträten. Bundeskanzlerin Angela Merkel müsse auf Bahnchef Rüdiger Grube aufmerksam werden, der sich aufführe "wie ein verrückt gewordenes Rumpelstilzchen".

Am Freitagvormittag hatte es am Nordflügel einen Polizeieinsatz gegen Demonstranten gegeben. Diese hatten eine Blockade gebildet, um den Abtransport von Bauschutt zu verhindern. Dabei seien 54 Blockierer von Einsatzkräften weggetragen worden, erklärte die Polizei. Anschließend habe man die Personalien dieser Personen, die mit einer Anzeige rechnen müssten, aufgenommen. "Mir wurde wie einem Kriminellen ein Schild mit Nummer vor die Brust gehalten", kritisierte ein Betroffener. Das sei keine erkennungsdienstliche Behandlung gewesen, sondern es habe sich um einen organisatorischen Vorgang gehandelt, so die Polizei.

Gegen 10 Uhr wurde ein Raureiter, der einen mit Bauschutt vom Nordflügel beladenen Lastwagen begleitete, von einem 63 Jahre alten Autofahrer auf der B10 zwischen Friedrichswahl und der Ausfahrt Stammheim von der Fahrbahn abgedrängt. Gegen den Mann, der vorsätzlich gehandelt haben soll, wird nun wegen des Verdachts auf einen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr ermittelt.