Während am Freitagabend Zehntausende demonstriert haben, plädiert Bahnchef Rüdiger Grube für ein Spitzengespräch.

Stuttgart - Trotz des schlechten Wetters haben am Freitagabend nach Angaben des Veranstalters mehr als 50.000 Menschen gegen das umstrittene Bahnprojekt "Stuttgart 21" demonstriert. Die Polizei sprach von mehr als 30.000 Menschen, die mit Trillerpfeifen, Transparenten und Sprüchen gegen den Umbau des Hauptbahnhofs protestierten. Bei der Menschenkette, die rund um den Landtag über den Charlottenplatz und die B14 gebildet wurde, kam es zur Verletzung der Bannmeile: Hunderte Demonstranten gelangten direkt vor den Landtag und protestierten mit Sprechchören gegen das Projekt. Die Polizei, die laut Augenzeugen die Demonstranten nicht daran gehindert hatte, die Bannmeile am Landtag zu betreten, sicherte das Gebäudes. Bahnchef Rüdiger Grube plädierte unterdessen in einem Hintergrundgespräch am Stuttgarter Flughafen für ein Spitzengespräch zwischen den Projektträgern und den Gegnern von Stuttgart21. "Wir haben eine Vorbildfunktion für die Bürger und dürfen nicht sprachlos bleiben", sagte Grube zur gleichen Zeit, als in der Innenstadt die Demonstrationen ihrem Höhepunkt zustrebten. Mit Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) habe er sich schon über seinen Vorschlag verständigt.

"So ein Gespräch kann man nicht ablehnen"


Auch die Grünen wolle er einladen. Namentlich nannte Grube den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und den Fraktionschef im Landtag, Winfried Kretschmann. Voraussetzung sei, dass keine Seite Vorbedingungen stellte, sagte Grube. Er hoffe, dass der Runde Tisch bereits im September stattfinden könne. "So ein Gespräch kann man nicht ablehnen", sagte Palmer noch am Abend auf Anfrage der Stuttgarter Zeitung. Grubes Angebot sei "der erste Schritt im Fahrplan zu einer Stuttgart-21-Konferenz". Die Demonstration am Freitag – bisher die größte in der Geschichte des Protestes – begann um 19 Uhr vor dem Hauptbahnhof mit dem "Schwabenstreich" mit Pfeifen, Tröten, Rasseln und Kochtöpfen. Bei der anschließenden Kundgebung forderten die Redner einen sofortigen Baustopp. Der Stuttgarter Kunsthistoriker Matthias Roser erklärte, Oberbürgermeister Wolfgang Schuster sei ein "Oberbürgermeister ohne Bürger" und müsse zurücktreten.

Gegen 19.40 Uhr setzte sich ein kilometerlanger Protestmarsch zum Landtag in Gang. Dort wurde die Bannmeile übertreten. Mehrere Stunden vor Beginn der Demonstration wurden auf dem Bahnhofsvorplatz, wo am Mittwoch mit dem Abbruch des Nordflügels begonnen worden war, rund 30 Blockierer von der Baustellenzufahrt weggetragen. Mit starkem Aufgebot sicherte die Polizei danach die Ein- und Ausfahrt mehrerer Container. Die Auswirkungen auf den Autoverkehr hielten sich gestern in Grenzen. Bei den Blockaden am Mittwoch war es zu einem tragischen Zwischenfall gekommen. Eine knapp 60-jährige Frau, die ihre Tochter zum Bahnhof gebracht hatte, erlitt einen Herzinfarkt. Der Notarzt benötigte wegen der Staus statt der üblichen zehn rund 30 Minuten für den Weg ins Krankenhaus. Dort war die Frau gestorben. Derweil wandte sich Stuttgarts OB Wolfgang Schuster (CDU) in einem offenen Brief an die S 21-Gegner. Er habe Verständnis, dass Bürgerinnen und Bürger das Projekt Stuttgart 21 kritisch beurteilten und ihr Recht zu demonstrieren wahrnehmen. Kein Verständnis habe er "für persönliche Diffamierungen, Beleidigungen, mit denen Stuttgart-21-Befürworter eingeschüchtert, genötigt und zum Teil auch bedroht werden", heißt es in dem Schreiben.