Unbelievable! Vor 300 Jahren bestiegen Hannovers Welfen den britischen Thron. Große, prachtvolle Ausstellungen feiern in Niedersachsen die Ahnen von Elisabeth, William und Kate.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Hannover - Stuttgart und Hannover sind schon verschieden. Aber es gibt auch Punkte, da ähneln sich die beiden Landeshauptstädte – zum Beispiel in der Vorverurteilung als langweilig und für touristische Besuche vernachlässigenswert im Blick von Nicht-Stuttgartern und Nicht-Hannoveranern. Zumindest Hannover will den Nörglern in diesem Sommer nun die Kante gegeben – mit einem Großprojekt an Landesausstellungen, in das die Landesregierung so viel Fördermittel wie noch nie investiert hat und in deren sommerlichen Besuch die Kulturreisenden aus ganz Deutschland zweifellos ein hübsch verlängertes Wochenende investieren können: zum 300. Jahrestag der Machtübernahme der Welfen in London „Hannovers Herrscher auf Englands Thron 1714–1837“ – oder, schön flott formuliert: „Als die Royals aus Hannover kamen“.

 

In Deutschland ist es nur wenigen geläufig, dass zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Kurfürsten von Hannover aus dem Haus der Welfen dank höchst komplizierter dynastischer Verwicklungen plötzlich eine Schlüsselposition im Konzert der europäischen Mächte erlangten. Für die Engländer ist dieser Tatbestand dagegen ein zentraler Punkt ihrer Landesgeschichte. Seit der Gründung einer eigenen, der anglikanischen Staatskirche, war das Land zuvor fast durchweg religiösen Konflikten, Unruhen, Anschlägen und Bürgerkriegen ausgesetzt gewesen. Dabei spielten nicht nur die Auseinandersetzungen mit den verbliebenen Katholiken im Land eine Rolle, sondern auch auf der anderen Seite mit starken calvinistischen Kräften, denen die Reformation der Anglikaner nicht weit genug ging. Führendes Herrschergeschlecht waren seit 1603 die Stuarts, deren einzelne Vertreter aber immer wieder zur Rückkehr zum Katholizismus zuneigten. All das machte das Staatsgefüge brüchig.

Dem wollte das inzwischen mächtige Parlament in London 1701 ein für alle Mal einen Riegel vorschieben: mit dem „Act of Settlement“ musste das Haus Stuart anerkennen, dass der englische Thron künftig nur noch an einen Protestanten gehen konnte. Und so kam über einige Umwege nach dem Tod von Queen Anne und unter Umgehung sonstiger katholischer Nachkommenschaft im Jahr 1714 Georg Ludwig, Kurfürst von Hannover, in Personalunion zusätzlich in den Besitz der Krone des Vereinigten Königsreichs von England, Wales und Schottland und von Irland und nannte sich als solcher Georg I.

In England blüht schon der Parlamentarismus

Wie wichtig den Engländern und dem Haus Windsor bis heute dieses Datum ist, mag man daran erkennen, dass Prinz Charles die Schirmherrschaft der Jubiläums-Landesausstellung in Hannover übernommen und einige Kostbarkeiten aus den Schatzkellern des Towers mitgebracht hat: im Landesmuseum ist nicht nur in einer Dokumentenvitrine der „Act of Settlement“ im Original zu bewundern, sondern auch jene Krone, mit der Georg am 20. Oktober 1714 in Westminster offiziell die Macht übernahm.

Wobei „Macht“ zu diesem Zeitpunkt schon sehr relativ gemeint ist: Das Faszinierende an der englischen Geschichte ist ja, dass sich hier über Jahrhunderte hinweg unter dem Mantel der Monarchie ein selbstbewusst parlamentarisches und über viele Entwicklungsstufen hinweg dann demokratisches System entwickelt hat. Das gilt auch für die Zeit der Hannoveraner in London: Während an den Höfen des Kontinents der Absolutismus blüht und sich die dortigen Fürsten als Staat und Sonne zugleich begreifen, sind Georg I., der II., der III., der IV. sowie Wilhelm IV. doch schon deutlich eingeschränkt in ihren Herrschaftsmöglichkeiten.

Das eigentliche Machtzentrum in London ist bereits das Parlament. Mit den Whigs und den Torys stehen sich hier, wenn auch noch locker strukturierte, Urformen heutiger Fraktionen gegenüber. Mit Robert Walpole beginnt die lange Reihe der politisch tonangebenden, manchmal aber auch nur vom öffentlichen Streit getriebenen Premierminister, die letztlich bis zu David Cameron heute reicht. Die Ausstellungen in Hannover glänzen darum etwas weniger mit barocker Pracht und Herrlichkeit, aber dafür mit hochinteressanten Einblicken in ein großes Jahrhundert englischer Kultur. Denn die rund 120 hannoverschen Jahre in London sind eine Zeit, in der sich das Land entscheidend entwickelt.

Unter den Welfen wird Großbritannien zum Weltreich

Es sind die Jahre der neuen Wissenschaften und der Royal Society, von John Locke und David Hume, von Georg Friedrich Händel und Daniel Defoe. Es sind die Jahre, in denen die Kolonien in Nordamerika in die Unabhängigkeit verloren gehen und in denen die britischen Kaufleute stattdessen ihre Niederlassungen in Afrika, Indien, im Fernen Osten und in der Karibik gründen. Es sind die Jahre, in denen britische Forscher und Abenteurer neue Welten erkunden, ganz im Sinne der Kunst möglichst unvoreingenommener Anschauung und des Nützlichkeitsdenkens, des Empirismus und des Utilitarismus – zwei zentrale Geisteshaltungen der Moderne, die England der Welt beschert und die das Land schließlich erst zum Geburtsland und dann zur Werkstatt der industriellen Revolution machen.

All das erschließt sich in den Ausstellungen Stück für Stück und lässt darum nicht nur anglophile Herzen höherschlagen. Sehr schön deutlich wird, wie diese englischen Einflüsse dann schließlich auch dem eigentlichen Stammland der Welfen zugutekamen. Dass Georg II. in seiner Eigenschaft als Kurfürst Georg August 1732 die Universität Göttingen gründete und die neue Hochschule zu einem Zentrum der Gelehrtenwelt machte, ist dem Vorbild der Royal Society und den Universitäten in Oxford und Cambridge geschuldet.

Während das Landesmuseum – 1856 übrigens von Georg V. eingeweiht; da waren die Welfen inzwischen sogar Könige von Hannover, allerdings auch nur noch von Hannover – in üppig bestückten, aber nie überladenen Räumen den großen historischen Bogen spannt, kann man im barocken Schloss Herrenhausen mit seinem herrlichen Park Kunst und Kultur der welfisch-englischen Zeit erleben. Wunderbar auch der Ausstellungsteil im Wilhelm-Busch-Museum: „Königliches Theater“ versammelt englische Karikaturen über das Herrscherhaus durch die Jahrhunderte bis in jüngste Zeit. Man muss schon sagen: so sehr die meisten Engländer ihre Royals auch bewundern – sie überziehen sie auch ganz schön deftig mit Hohn und bösestem Spott. Dafür hätte es in manchen Ländern des Kontinents sicher häufig tiefsten Kerker oder sogar ein Kopf-ab gegeben . . .

Victoria wollte man in Hannover nicht haben

Dass Gender-Debatten keineswegs eine Erfindung der Gegenwart sind, macht dann das Ende der spannenden Schau deutlich: Als Wilhelm IV. 1837 kinderlos starb, ergab sich eine komplizierte Nachfolge. In Hannover (seit 1815 selbst Königreich) durften nur männliche Erben auf den Thron. England dagegen kannte schon seit Jahrhunderten auch Herrscherinnen. Die Personalunion wurde aufgelöst: In Hannover kam der nächste männliche Erbe auf den Thron, Ernst August, Duke of Cumberland. In London wurde dagegen seine Nichte gekrönt, Viktoria.

Mit den Welfen in Hannover ging es in den darauf folgenden Jahrzehnten bekanntlich stetig bergab. 1866 kassierten die Preußen ihr Reich. Mit der langen Regentschaft Viktorias verbindet sich dagegen der Aufstieg Großbritanniens zum Empire, mit allen Licht- und Schattenseiten. Immerhin, das aktuelle Familienoberhaupt der Welfen, Prinz Ernst August, ist auch im Besitz eines britischen Passes und wird dort bis heute „Royal Highness“ tituliert.

Projekte Das Ausstellungsprojekt „Als die Royals aus Hannover kamen“ verteilt sich bis zum 5. Oktober auf fünf Standorte: „Hannovers Herrscher auf Englands Thron 1714–1837“ im Niedersächsisches Landesmuseum und im Museum Schloss Herrenhausen, „Eine Kutsche und zwei Königreiche. Hannover und Großbritannien 1814–1837“ im Historischen Museum, „Königliches Theater. Britische Karikaturen aus der Zeit der Personalunion und der Gegenwart“ im Deutschen Museum für Karikatur und Zeichenkunst und „Reif für die Insel. Das Haus Braunschweig-Lüneburg auf dem Weg nach London“ im Residenzmuseum im Celler Schloss, vierzig Kilometer nördlich von Hannover.

Katalog Der Gesamtkatalog aller norddeutschen Ausstellungen ist im Sandstein Verlag, Dresden, erschienen, und umfasst über tausend Seiten. Im Museumsshop in Hannover ist das Konvolut für 68 Euro erhältlich, im Buchhandel für 88 Euro.