Ohne in den Landkreis eingebunden zu sein, würde die klamme Stadt Reutlingen jedes Jahr um mindestens vier Millionen Euro besser dastehen. Oberbergermeisterin Bosch forciert die „Auskreisung“. Die letzte Entscheidung fällt der Landtag.

Reutlingen - Passt die Stadt Reutlingen in den Landkreis Reutlingen? Nachdem Reutlingen 1988 die 100 000-Einwohner-Marke übersprang und zur Großstadt aufstieg, wird über diese Frage immer wieder diskutiert. Jetzt liegen erstmals Zahlen und Daten über die Folgen einer Trennung von Stadt und Landkreis auf dem Tisch. Barbara Bosch, die Oberbürgermeisterin, sieht sich bestätigt: „Ein ländlich geprägter Landkreis und die Großstadt Reutlingen passen nicht zusammen.“

 

Am Donnerstagabend präsentierte sie dem Gemeinderat einen Beschlussvorschlag mit dem erklärten Ziel, „die Stadt Reutlingen gemäß Paragraf 3 der Gemeindeordnung zum Stadtkreis zu erklären“. Nun soll der Gemeinderat beraten und Ende Juni entscheiden. Stimmt der Rat dem Vorschlag der Stadtspitze zu, ist die Landesregierung mit Anhörungen an der Reihe. Anschließend muss der Landtag diesem in Baden-Württemberg bisher einmaligen Ansinnen zustimmen oder eben nicht. „Einen Rechtsanspruch darauf gibt es nicht“, erklärt der Verfassungsrechtler Klaus-Peter Dolde. Er geht davon aus, dass die Fakten so umfassend aufbereitet seien, „dass der Gesetzgeber dem Antrag folgen sollte“. Das dürfte kaum vor der Landtagswahl 2016 geschehen, sagt er voraus.

„Stadt ohne Kreis frei von Schulden“

„Was in aller Welt strebt die Stadt mit so einer Auskreisung an?“, ist die Oberbürgermeisterin in den letzten Monaten oft gefragt worden. Lange argumentierte sie mit unterschiedlichen Strukturen von Großstadt und ländlichem Raum, jetzt kann sie mit Zahlen antworten. Nach zwei Jahren gründlicher Recherche kommt ein 130 Seiten starker Bericht zur „Gründung eines Stadtkreises Reutlingen“ zu dem Schluss, dass die Stadt ohne Kreis pro Jahr um mindestens vier Millionen Euro reicher wäre. Wäre Reutlingen seit 1989 kreisfrei, „dann wären wir heute schuldenfrei“, sagt sie. Die in Sachen Finanzen aktuell alles andere als gut dastehende Großstadt ist mit 86 Millionen Euro im Soll, den Schuldendienst einschließlich Zinsen gerechnet mag diese Rechnung aufgehen.

Barbara Bosch wirbt nicht nur mit finanziellen Argumenten. Ein weiteres Stichwort ist das Recht auf Selbstverwaltung der Stadt. So würden aktuell viele Entscheidungen, die Reutlinger Bürger betreffen, vom Kreistag getroffen. Die Verwaltungsstrukturen von Großstadt einerseits und kleinen Gemeinden des Landkreises andererseits seien zu unterschiedlich. Angestrebte Ausgleichsfunktionen könnten nicht stattfinden in einem Landkreis, bei der die größte Stadt, Reutlingen, 112 000 Einwohner zähle und die zweitgrößte, Metzingen, nur 21 000. Sodann kommen die Gutachter zu dem Schluss, dass Reutlingen kein bisschen weniger städtisch geprägt sei als Städte mit vergleichbarer Größenordnung wie Heilbronn, Pforzheim oder Ulm.

Es geht oft ums Geld in dieser Debatte. Reutlingen muss über die Kreisumlage 43 Prozent der Kosten des Landkreises übernehmen. Der EU-Beauftragte oder der Behindertenbeauftragte würden mitfinanziert, obwohl diese für Reutlingen nichts tun. Dort wurden längst eigene Stellen mit auf die Stadt ausgerichteten Zuständigkeitsbereichen geschaffen. „Wir zahlen doppelt, und das an vielen Stellen“, erklärt Barbara Bosch und spricht von zahlreichen Doppelstrukturen.

Stadt will Kliniken weiterhin mittragen

Das gelte auch für die Abfallwirtschaft oder den ÖPNV. Mit den drei Kreiskliniken würde die Stadt den Landkreis „nicht alleinelassen, wir werden die Kliniken mittragen“. Auch im Falle der Kreissparkasse sieht Bosch Mitwirkungsmöglichkeiten.

Ein demokratisches Argument kommt ebenfalls im Spiel. Im Kreistag darf Reutlingen maximal 40 Prozent der Sitze stellen, obwohl die Einwohnerzahl im Verhältnis höher liegt. Der Kreistag fällt vor allem im Sozialbereich viele Entscheidungen, die die Stadt betreffen.

Und der Landkreis selbst? Der müsse unterm Strich mit zwei Millionen Euro weniger auskommen, ist den Papieren zu entnehmen. „Der Landkreis Reutlingen wird sehr wohl und sehr gut auch ohne die Großstadt seine Aufgaben erledigen“, sagt Barbara Bosch. Im Vergleich mit den elf ländlich geprägten der insgesamt 35 Landkreise in Baden-Württemberg würde der Reutlinger Kreis eine Spitzenposition einnehmen.

Landrat Reumann will sich erst nach Durchsicht der Unterlagen detailliert zu den Abspaltungsplänen der Stadt in seinem Kreis äußern. Bisher hatte er dem Ansinnen stets eine klare Absage erteilt. Überleben könne der Kreis ohne die Stadt schon, aber er sieht nicht, dass sich die bestehenden Aufgaben durch eine Änderung gegebener Strukturen besser bewältigen ließen.