Der Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der Gülen-Bewegung findet auch mitten in Stuttgart statt. Ein Bericht des Landesamts für Verfassungsschutz aus dem Jahr 2014 löst nun viel Wirbel aus.

Stuttgart - Ömer Cinar ist schockiert. „Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte“, sagt er. Vor knapp zwei Wochen hat der Vorsitzende des FC Stuttgart-Cannstatt erfahren, dass sein Fußballverein auf einer Boykott-liste auftaucht, die im Internet kursiert. Darauf werden mehrere mutmaßliche Unterstützer der Fethullah-Gülen-Bewegung genannt. Wer die Liste erstellt hat und weshalb der Verein verdächtigt wird, dem in den USA lebenden muslimischen Prediger Fethullah Gülen nahezustehen, weiß Cinar nicht. Tatsache ist: Der Club ist gebrandmarkt, einige Kinder werden nach den Sommerferien vermutlich nicht mehr dort kicken.

 

Cinar räumt ein, er habe vor knapp zehn Jahren die Bil-Schule in Cannstatt, die als Einrichtung von Gülen gilt, finanziell unterstützt. Aber damals hätten viele andere auch Geld gespendet, deshalb sei er noch kein Putsch-Unterstützer. Wie Cinar geht es zurzeit etlichen anderen – jenen, deren Namen auf der Boykottliste auftauchen, obwohl sie selbst vielleicht nicht direkt in Verbindung mit dem Netzwerk stehen. Seit dem Putschversuch in der Türkei, für den Ankara die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, ist auch die Atmosphäre unter türkischstämmigen Menschen im Südwesten angespannt. Die Auseinandersetzung zwischen der AKP Erdogans und der Gülen-Bewegung beschäftigt auch die deutsche Politik. Vor knapp zwei Wochen hatte das türkische Generalkonsulat in Stuttgart eine weitere Liste mit rund 40 Vereinen, Bildungseinrichtungen, Schulen und Unternehmen aus Baden-Württemberg erstellt, die Teil des Gülen-Netzwerks sein sollen. Der Generalkonsul Ahmet Akinti forderte die Landesregierung auf, die genannten Institutionen neu zu prüfen und zu bewerten. Man erachte sie als gefährlich, so Akinti. Die Landesregierung weigerte sich, der Aufforderung nachzukommen. Es gehe nicht an, dass sich eine ausländische Regierung in innere Angelegenheiten Deutschlands einmische, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

„Das Landesamt hat gute Recherche geleistet“

Das Pikante an der Liste: Offenbar, so zeigt sich nun, hat ausgerechnet das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz das türkische Generalkonsulat mit Daten und Recherchen versorgt – wenn auch unwissentlich. Bereits 2014 hatte das Amt im Auftrag des damaligen Innenministers Reinhold Gall (SPD) einen Bericht „über die Prüfung tatsächlicher Anhaltspunkte für die verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Bewegung um den türkischen Prediger Fethullah Gülen“ erstellt, in dem zahlreiche Einrichtungen der Bewegung namentlich aufgeführt sind. Man habe auf diesen Bericht zurückgegriffen, heißt es jetzt aus dem Konsulat. „Das Landesamt hat gute Recherche geleistet“, lobt Akinti.


Kritiker sprechen von sektenähnlichen Praktiken

Derartige Ausschreitungen will man in Baden-Württemberg verhindern. Nach Angaben des Innenministeriums wurden die Dienststellen der Polizei inzwischen für das Thema sensibilisiert, man treffe vor Ort „lageangepasst die notwendigen Maßnahmen“, heißt es.Doch auch in Deutschland werden die Gülen-Anhänger seit einigen Jahren kritisch gesehen. In der Öffentlichkeit genießen insbesondere die Bildungseinrichtungen einen guten Ruf, einige Politiker loben den Einsatz für Integration. Kritiker monieren jedoch sektenähnliche Praktiken. Die Bewegung gilt als eher verschlossen und intransparent, eine offizielle Mitgliederstruktur ist nicht veröffentlicht. Auch im Bericht des Verfassungsschutzes von 2014 heißt es, dass bei einigen Äußerungen Gülens zweifelhaft sei, ob sie mit einer freiheitlich demokratischen Grundordnung vereinbar seien – beispielsweise Äußerungen zum Umgang mit der Abwendung vom Glauben und mit den Kurden in der Türkei.

Laut Bernhard Lasotta, Landtagsabgeordneter der CDU, nutzt die Bewegung die demokratische Grundordnung in Deutschland aus. Ihr gehe es darum, „über eine Kaderschmiede gut ausgebildeter Akademiker ein Netzwerk in Unternehmen, Staat, Gesellschaft und Parteien zu schaffen, das den Marsch durch die Institutionen antritt“, so der Abgeordnete.

Doch auch wenn Politiker wie Lasotta vor dem zunehmenden Einfluss der Bewegung in Institutionen warnen, so werden in den nun kursierenden Listen zumindest wohl teilweise unbeteiligte Bürger als Putsch-Unterstützer verdächtigt. „Es macht uns einfach traurig“, sagt Ömer Cinar vom FC Stuttgart-Cannstatt. Die Boykottliste habe sogar einen Keil zwischen Freunde und Familien getrieben.