In seinem postum erschienenen Buch „Vonne Endlichkait“ begibt sich der im April gestorbene Günter Grass noch einmal auf große Fahrt. In Wort und Bild berichtet er vom Abenteuer des eigenen Verlöschens.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Abgestreifte Schlangenhäute, tote Vögel, verschrumpelte Pilze, überall raschelt Herbstlaub. Das letzte Werk von Günter Grass ist ein Poesiealbum der Vergänglichkeit. Es lebt davon, dass das Leben sich dem Ende zuneigt. Bis zu seinem Tod im April dieses Jahres hat der Nobelpreisträger an „Vonne Endlichkait“ gearbeitet. Und was der Titel verheißt, entfaltet die doppelte Kraft seines Talents in Zeichnungen, die mit Gedichten und Prosastücken korrespondieren. Nun liegt das Buch vor, in schönem Satz auf edlem Papier, ein kleines buchhandwerkliches Gesamtkunstwerk, mit dem der Steidl Verlag das seinem wichtigsten Autor gewidmete Editionsprojekt krönt.

 

Man nimmt dieses Buch mit einer gewissen Scheu in die Hand. Hat der Kritiker angesichts dieser Notizen aus dem Jenseits nicht zu schweigen? Selbst dann, wenn er den alten Fuchs schlau bei den Zurüstungen für die eigene Unsterblichkeit zu ertappen glaubt? Ist diese Sammlung aus letzter, allerletzter Hand nicht eher ein Gegenstand der Pietät als einer des ästhetischen Urteils? Und hat Grass damit womöglich endlich erreicht, wonach er immer trachtete: unantastbar zu sein für jene, die noch über einige seiner letzten Gedichte zähnefletschend hergefallen waren?

Was für eitle Fragen! Wer „Vonne Endlichkait“ aufschlägt, begegnet keinem Monument, keinem steinernen Gast, der noch einmal zurückkehrt, um dem nun seiner moralischen Autorität beraubten Land hinterherzufuchteln. Hier zeigt sich vielmehr ein alter Mann, dessen Pfeifenraucherlunge auf dem letzten Loch bläst, der seine virile Kraft mit leisem Achselzucken ad acta legt und amüsiert seinen gefürchteten Biss einem einzigen übrig gebliebenen Zahn überantwortet. „Noch hält er und steht in sinnloser Schönheit. Beißt keinen Faden ab. Knackt keine Nuss. Allenfalls darf er als Symbol der Vergänglichkeit missbraucht werden. Weshalb ich mich vor den Spiegel setze, den Zahnersatz beiseitelege, das Maul aufsperre und ihn in einem Selbstportrait verewige.“

Mit kindlicher Neugier

Der schwere Stein des Sisyphos, in monumentalen Romanen wieder und wieder nach oben gewälzt, ist von dem Gebrechlichen – „weil kipplig zu Fuß / und vom Gemüt wankend“ – nicht mehr zu stemmen. Nun hält sich Grass an kleinere Steine, solche, „die der Hand schmeicheln“. Darin steckt eine poetologische Maxime, nach der sich die versprengten Aufzeichnungen zu einem Ganzen fügen. Wo die großen Zusammenhänge bröckeln, bleiben Einzelheiten übrig, Erinnerungen, letzte Gelegenheiten, die miteinander in Austausch treten wie die Gegenstände eines Stilllebens.

Und das ist das Wunderbare dieser Spätlese: dass sie einen Zustand, der gemeinhin eher als Kränkung, Bürde, Last erfahren wird, literaturfähig macht, ohne ihn in irgendeiner Weise lebenspraktisch zu beschönigen. Gleichsam im lyrischen Rollator begibt sich der 87-Jährige noch einmal auf große Fahrt und ruft die Musen an für das Abenteuer des eigenen Verlöschens.

Mit geradezu kindlicher Neugier durchforscht er die faltigen Antipoden der Kindheit, trommelt noch einmal alte Weggefährten zusammen, Jean Paul oder Rabelais, auch wenn er zu dessen epischen Deftigkeitsgelagen beizusteuern sich kaum mehr in der Lage sieht: „Nicht mal ein Furz will mir gelingen, / die Nasen aller Schnüffler / meiner Zeit zu kränken, / wenngleich ich, wie mir vorgeschrieben, aus tiefen Schüsseln blähend Bohnen fraß.“

Probeliegen im Sarg

Bisweilen macht sich das Nachlassen der Kraft dichterisch und zeichnerisch durchaus bemerkbar: Doch wo das prosaische Versmaß holpert, die alte Lust an der Levitenleserei gefährlich grummelt und die Schraffur der Bilder verschwimmt, da beglaubigen diese Schwächen mehr, als sie schaden. Sie stellen sich gewissermaßen in den Dienst der Darstellung, rücken ein, wo es dem Dichter an Mitteln gebricht.

Die längste Geschichte, für die der Erzähler noch Atem hat, ist der Sargwahl vorbehalten: „Worin und wo wir liegen werden.“ Beim befreundeten Schreiner Adomeit lassen sich der Autor und seine Frau zwei Kisten zimmern, eine aus Kiefer, eine aus Birke, für jedes der Kinder einen Haltegriff, raschelndes Laub soll die Grabbeigabe sein. Man plaudert mit dem wackeren Handwerker zu einem Schnäpschen über die kletternden Benzinpreise, schützt das vollendete Werk nach zufriedenem Probeliegen mit Plastikplanen vor Fliegenschiss. Hier wie auch in den anderen Denkbildern des Bandes ist dem klar konturierten Realismus stets ein Hintersinn unterlegt, der über die Gegenständlichkeit hinausweist, auf die sich Grass beschränkt. Es ist ein Hintersinn freilich, der keine falschen Hoffnungen schürt. Er bleibt dem Diesseits verhaftet, so kurz die Frist auch sein mag, die Grass vergönnt ist, noch darin zu weilen. „Was unseren Tod betrifft, / sind wir uns einig: / nur was / im unmöblierten Nichts geschieht, / bleibt eine immergrüne Frage.“

Feier des Daseins

Die bedeutsame Welt der toten Dinge gehört seit je zur Signatur der Melancholie. Deren Bildwelt durchzieht das Buch. Bewegend bekennt Grass, umdüstert von einer Schwermutsattacke auf dem Lübecker Weihnachtsmarkt, wie sehr er zeitlebens sein Werk dem Trübsinn, der Depression zu entringen hatte. Und doch ist dieses Memento mori seines letzten Buches zugleich eine Feier des Daseins. Die Heiterkeit des Alters ist keine leere Parole. Sie gerinnt in dem schlichten Wörtchen „jetzt“: So wie es hier noch einmal ausgesprochen wird, eignet ihm ein Klang, den es zu Zeiten, in denen das Jetzt die Regel war, nie besaß.

Im Abendlicht tritt ein Dichter in Erscheinung, der sich für das letzte Porträt gerade nicht in der Pose in Stellung bringt, die für sein Leben bezeichnend war, sondern als Hinfälliger, unterworfen der „Endlichkait“, die er ganz zum Schluss im Idiom seiner kaschubischen Herkunft besingt. Es zählt sicher zu dem wundersamen Paradox der Literatur, dass gerade diese sich aller Jenseitszuversicht enthaltende Bestandsaufnahme zu den Texten gehören wird, in denen Grass unsterblich wird.