Dank ihrer Lage am Golfstrom und ihres gewaltigen Tidenhubs sind Landschaft und Natur der Kanalinsel Guernsey äußerst facettenreich - ein Streifzug.

St. Peter Port - Ein Kanonenschuss zerreißt die Stille. Erschrocken drehen sich die Wanderer um und blicken zurück auf St. Peter Port, wo sie vor etwa einer halben Stunde aufgebrochen waren. Castle Cornet, die Festung am Eingang zum Hafen der Inselhauptstadt, ist hinter der Wegbiegung gerade noch zu sehen. „Die Kanone wird jeden Tag pünktlich um 12 Uhr abgefeuert“, sagt Gill Girard und lächelt entschuldigend. „Wir nennen sie daher auch noonday-gun (Mittagskanone)“. Die Fremdenführerin ist auf Guernsey geboren und nimmt das ohrenbetäubende Ritual kaum noch wahr, mit dem die Guernseymen (so nennen sich die Insulaner, wobei zwischen den Geschlechtern kein Unterschied gemacht wird) an ihre kriegerische Vergangenheit erinnern. Denn die Inselperle im Atlantik war von jeher ein Streitapfel zwischen Frankreich und Großbritannien. Überall an der Küste stößt man auf gemauerte Wachtürme oder wehrhafte Festungen aus napoleonischer bzw. viktorianischer Zeit, die von den Einheimischen liebevoll gepflegt und instand gehalten werden.

 

An eine andere kriegerische Epoche wollten die Guernseymen dagegen lange nicht erinnert werden - die Besetzung der Insel im Zweiten Weltkrieg durch Hitler-Deutschland. Als die Wehrmacht 1944 nach fünfjähriger Besatzung abzog, schütteten die Insulaner die Schützengräben zu und häuften bergeweise Sand über die Betonbunker in den Dünen - als ließe sich die Schmach der Besetzung damit aus dem kollektiven Gedächtnis ausradieren. „Hier findet aber gerade ein Bewusstseinswandel statt,“ erklärt Gill. „An vielen Orten wurden die Verteidigungsanlagen der Deutschen in den letzten Jahren wieder ausgegraben und sogar instand gesetzt. Don’t mention the war (erwähne den Krieg nicht) - dieser Satz gilt inzwischen nicht mehr auf Guernsey“.

Insgesamt starben mehr als 500 Soldaten hier

Sie kenne niemanden, der heute noch Ressentiments gegenüber Deutschen habe, sagt die 65-Jährige und führt ihre Gäste auf den deutschen Soldatenfriedhof der Insel, der in bester Aussichtslage nicht weit von St. Peter Port liegt. „Obergefreiter Walfried Friedrich“, steht auf einem der sandfarbenen Grabsteine. Der Wehrmachtssoldat wurde gerade mal 36 Jahre alt. Insgesamt starben von der mehrere Tausend Mann starken deutschen Besatzungstruppe mehr als 500 Soldaten hier. Viele, eigentlich zu viele, wenn man bedenkt, dass es außer ein paar kleineren Scharmützeln auf See keine kriegerischen Auseinandersetzungen auf Guernsey gab. „Viele starben bei Unfällen“, weiß Gill. „Sie sprengten sich selbst in die Luft, als sie die Küste verminten.“ Aber auch Hunger und Krankheit forderten viele Opfer.

Ein Militärarzt notierte 1944: „Die Sterblichkeit ist gestiegen, zahlreiche Fälle von Geistesgestörtheit und sehr viel Tuberkulose.“ Das German Occupation Museum ist voller historischer Artefakte aus der Zeit. Ein Besuch lohnt sich für jeden, der sich mit der Besetzung der Kanalinseln durch Hitler-Deutschland intensiver befassen möchte. Nach dem kurzen Abstecher zum Friedhof führt Gill ihre Gäste wieder zurück auf den Klippenpfad, der sich von St. Peter Port bis Pleinmont schlängelt. Jedes Frühjahr sind die Böden entlang der Strecke mit blauen Blütenteppichen aus atlantischem Hasenglöckchen bedeckt. Aufgrund seiner Lage am Golfstrom und dem daraus resultierenden milden Klima fühlen sich auf Guernsey aber auch subtropische Arten wie Bambus, Bananen, Orchideen und Kamelien wohl. Meterhohe Palmen und efeuumrankte Steinmauern, hinter denen sich englische Cottages oder imposante Villen verstecken, wechseln sich ab mit mannshohen Büschen vielfarbiger Rhododendren und Hortensien.

Und wo immer die Vegetation es zulässt, eröffnen sich herrliche Ausblicke auf die benachbarten Inseln oder kleine Buchten, die auch heute noch genauso pittoresk sind wie 1883, als der französische Maler August Renoir hierherkam, um sie auf die Leinwand zu pinseln. „Die meisten Besucher von Guernsey wollen sich ständig in der Natur aufhalten“, weiß die Fremdenführerin. „Alles, was sie dafür brauchen, sind eine Landkarte und ein Sinn fürs Abenteuer.“ Und Gills Broschüre „Tasty Walks“, die sie im Auftrag des Fremdenverkehrsamtes der Insel, Visit Guernsey, ausgearbeitet hat. Tasty Walks (geschmackvolle Spaziergänge) sind elf Wanderungen unterschiedlicher Länge und Schwierigkeitsgrade, mit denen Besucher auf eigene Faust die Schönheit der Insel erkunden können. Und da wandern bekanntlich hungrig macht, enthält die Broschüre auch Tipps, wo man unterwegs einkehren und tasty, also lecker, essen gehen kann.

Wie Perlen auf einer Kette

Aber auch mit dem Fahrrad lässt sich die Insel wunderbar entdecken. Denn Guernsey ist von einem Netz von Nebenstraßen überzogen, die Ruettes Tranquilles (ruhige Sträßchen) genannt werden. Autofahrer dürfen hier mit maximal 24 Kilometer pro Stunde unterwegs sein, und Fußgänger sowie Fahrradfahrer haben immer Vorrang. Der Name steht exemplarisch für eine weitere Besonderheit auf Guernsey: Obwohl die Insel der britischen Krone untersteht, sind alle Straßennamen auf Französisch - Überbleibsel aus einer Zeit, als Guernsey noch dem Herzog der Normandie unterstellt war. Besonders die flach ins Meer auslaufende Westküste bietet sich für Radtouren an. Wie Perlen auf einer Kette reihen sich hier nicht nur die schönsten Strände der Insel aneinander, sondern auch viele Sehenswürdigkeiten: Dolmen, Menhire, Wachtürme und Festungen. Hier lässt sich auch ein Naturphänomen der Insel besonders gut beobachten: Bei Ebbe zieht sich das Meer Hunderte von Meter vom Ufer zurück.

Nur an wenigen Orten der Welt ist der Tidenhub so gewaltig. „Bis zu zwölf Meter sind es an manchen Tagen“, weiß Gill. „Bei Ebbe vergrößert sich die Fläche der Kanalinseln um ein Drittel.“ In breiten Prielen rinnt das Wasser auf den Horizont zu. Es macht Spaß, über die schier unendlichen Sandflächen zu wandern oder über die Granitfelsen zu klettern, die sich bis vor kurzem noch komplett unter der Wasseroberfläche befanden. Zwischen den Felsen haben sich Wasserbecken gebildet, in denen sich Krebse, Garnelen und kleine Fische beobachten lassen. Mit etwas Glück findet man die Schale einer Jakobsmuschel oder die eines Seeohrs. Der Name dieser Meeresschnecke leitet sich von der Gehäuseform ab, die einer menschlichen Ohrmuschel ähnlich sieht. Die Innenseite des Schneckenhauses ist aus Perlmutt. „Es ist bei Muschelsammlern daher eine begehrte Trophäe“, weiß Gill.

Und da auch Radfahren und Muschelsammeln hungrig machen, geht es zum Abschluss dieses Tages ins Pub des Imperial Hotel an der Westküste. Beim meat draw, einer Fleischverlosung, kann man mit etwas Glück einen Sonntagsbraten gewinnen. Manchmal gibt es aber auch Fisch oder eine Kiste voller Meeresfrüchte. Der Pub ist rappelvoll, es riecht nach frisch gezapftem Ale und Frittierfett. Es ist Freitagabend. Die Lose verkauft ein Pub-Mitarbeiter mit Bauchladen für ein Pfund - kleine Zettel in Mintgrün, Rosa, Hellblau und Zitronengelb mit Nummern drauf. Laut, lustig und leidenschaftlich geht es zu, wenn die Nummern ausgerufen werden. Die Nieten werden nach der Verlosung wie Konfetti in die Luft geworfen. Entstanden sei dieser Brauch, „weil die Männer etwas gebraucht hätten, um ihre verärgerten Gattinnen wohlgesonnen zu stimmen, nachdem sie am Ende der Woche einen Teil ihres Wochenlohns im Pub versoffen haben“, erklärt Gill. Ein Erlebnis ist es allemal. Man sollte es sich keinesfalls entgehen lassen.

Infos zu Guernsey

Anreise
Guernsey ist von vielen deutschen Flughäfen erreichbar - Direktflüge gibt es allerdings nur im Sommer z. B. ab Stuttgart (25. April bis 17. Oktober) mit Airberlin ab 240 Euro , www.airberlin.de . Außerhalb der Saison wird ein Zwischenstopp in London nötig. Die nationale Fluggesellschaft von Guernsey, Aurigny ( www.aurigny.com ), fliegt mehrmals täglich ab London Gatwick und London City (ab 110 Euro bei 20 Kilogramm Freigepäck).

Unterkunft
Die nobelste Adresse in St. Peter Port ist das Old Government House Hotel. Es ist in einem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert untergebracht und lässt mit Außenpool und Spa keine Wünsche offen, DZ ab 280 Euro, www.theoghhotel.com

Grange Lodge in St. Peter Port bietet neben B&B-Zimmern auch Ferienwohnungen, ab 400 Euro pro Woche, www.grangelodgehotel.com

Gute Alternative für Familien oder Reisende mit schmalem Geldbeutel: Camping auf der Insel Herm, voll ausgestattete Hauszelte kann man ab 320 Euro pro Woche mieten, www.herm-island.com/camping

Essen und Trinken
Den schwäbischen Küchenchef Günter Botzenhardt hat es der Liebe wegen nach Guernsey verschlagen. In seinem Restaurant Le Nautique in St. Peter Port gibt es ausgezeichnete Fischgerichte und leckere Desserts, www.lenautiquerestaurant.co.uk

Das Imperial Hotel hat eine tolle Lage direkt am Ufer der Rocquaine Bay in Torteval. Probieren Sie im dazugehörigen Pub Fish and Chips, riesige Portionen, echt lecker, www.imperialinguernsey.com

Sehenswürdigkeiten und Aktivitäten
Mit nur fünf Meter Länge gilt die Little Chapel (Kleine Kapelle) als kleinstes Gotteshaus der Welt und ist übersät mit Muscheln, Glasscherben und Bruchstücken farbigen Porzellans. Eintritt frei, www.thelittlechapel.org

Das auf einer Felsnase gelegene Castle Cornet in St. Peter Port beherbergt heute fünf Museen und wunderschöne Gärten, http://museums.gov.gg/

Fort Grey an der Westküste wurde nach General Charles, Earl Grey of Howick, einem ehemaligen Gouverneur von Guernsey, benannt. Viel bekannter ist aber dessen Sohn. Er gilt als Erfinder der Teesorte Earl Grey. In der Festung ist ein Museum für Schiffswracks untergebracht, www.museums.gov.gg/forthistory

Geführte Radtouren: Der Anbieter Donkey’s days out hat verschiedene Routen im Programm, Erwachsene 20 Euro, Kinder 11,50 Euro. Wer sich auf eigene Faust auf den Weg machen will, kann hier Räder und Ausrüstung ausleihen: www.donkeysdaysout.co.uk

Allgemeine Informationen
Die Websites zu Guernsey sind gut gemacht und bieten viele Informationen zu allen relevanten Themen, z. B. www.visitguernsey.com oder www.kanalinseln.com