In den Landkreisen Reutlingen und Tübingen wütete Deutschlands größter Hagelsturm besonders stark. Zwar sind die meisten Schäden mitterweile beseitigt worden, doch die Handwerker werden auch im nächsten Jahr noch zu tun haben.

Reutlingen/Tübingen - Guten Tag, lieber Anrufer, unsere Mitarbeiter sind alle im Gespräch.“ Auch ein Jahr nach dem großen Hagel ist bei der Firma Peetz Bedachungen in Tübingen zunächst nur die Stimme vom Band zu hören, erst nach einigen Anläufen ist der Seniorchef am Apparat. Gebhardt Höritzer zieht Bilanz: „Eines kann ich sagen, das letzte Jahr war sehr anstrengend und stressig.“ Als Sachverständiger auch für Hagelschäden habe er schon viele Termine für 2015 im Kalender, sagt der Spezialist für Dächer.

 

Genau ein Jahr ist es her, als am 28. Juli das größte Hagelereignis aller Zeiten passierte. Der Superlativ gilt nicht nur für die Landkreise Tübingen, Reutlingen, Esslingen und Göppingen, sondern für die gesamte Republik. 70 000 Schäden mit einem Schadensaufwand von 600 Millionen Euro notierte allein die SV Sparkassenversicherung. Eine fünf Kilometer breite und 27 Kilometer lange Hagelzelle hatte diese immensen Schäden angerichtet. Dabei war es eigentlich ein wunderschöner Sonntag mitten im Sommer. Doch dann dauerte es nur wenige Minuten, bis die Straßen von einer zentimeterhohen Eisschicht aus bis zu 14 Zentimeter großen Hagelkörnern überzogen waren. Autos wurden total verbeult, Fensterscheiben klirrten, Dachpfannen barsten unter den schweren Eisgeschossen. Landwirte und Obstbauern verloren ihre gesamte Ernte.

500 Millionen Euro sind an Geschädigte ausgezahlt worden

Mittlerweile hat die Sparkassenversicherung 65 000 der 70 000 Schäden reguliert und rund 500 Millionen Euro an Geschädigte ausbezahlt. Klaus Zehner, der Schaden- und Unfall-Vorstand der SV Sparkassen betont ein Jahr danach: „Die Auswirkungen des Klimawandels sind unübersehbar.“ Unwetterschäden durch Gewitter mit Hagel und Überschwemmungen nach Starkregen seien auch 2014 an der Tagesordnung.

Vor einem Jahr wurden auch Menschen verletzt. Spaziergänger und Radfahrer klagten nach dem Unwetter über blaue Flecken am Rücken. Ein Motorradfahrer, der auf dem Heimweg nach Mössingen überrascht worden war, klagte gar über heftige Schmerzen an den Zehen. Er war angesichts der heftigen Böen von seinem Bike abgestiegen. Vor Kopfverletzungen schützte ihn der Helm, doch die Körner trafen die Füße. „Mir wurde schon unheimlich, als direkt neben mir ein toter Vogel vom Himmel fiel“, erinnert er sich. Eine Reutlingerin unterteilt den Sommer 2013 in die Wochen vor und nach dem Ereignis: „Vorher waren die Gartenfeste fröhlich, danach nicht mehr.“ Es gab nur das Thema Hagel. „Ich konnte es nicht mehr hören, wir sind gar nicht mehr zu den Nachbarn gegangen.“

Die allermeisten Dächer in Grafenberg sind repariert

Grafenberg im Landkreis Reutlingen war eine der am schlimmsten betroffenen Städte. Hier sind viele Wunden im Stadtbild mittlerweile geschlossen. „Fast alle Dächer sind gerichtet“, sagt die Bürgermeisterin Annette Bauer. Doch die Arbeiten im Innenbereich und Reparaturen an Rollläden und Fassaden liefen immer noch auf Hochtouren.

Eine Reihe von Wohnungen sei für Monate unbewohnbar gewesen. „Viele Menschen sind bei Verwandten und Bekannten untergekommen, andere wurden im Ort in Ferienwohnungen untergebracht“, sagt die Rathauschefin. Einige Bewohner haben aus Grafenberg wegziehen müssen, sie seien nicht zurückgekommen. Die Schäden an Grafenbergs Häusern belaufen sich auf rund 14 Millionen Euro, die an Autos auf 2,4 Millionen Euro. „Die Bevölkerung sei insgesamt „stark verunsichert“, sagt Annette Bauer, die feststellt, dass viel über Hagelflieger diskutiert werde. Wichtig ist der Bürgermeisterin, dass im Ort sehr große Solidarität und ein großer Zusammenhalt zu spüren war. „Dieses Gemeinschaftsgefühl hält bis heute an“, sagt Bauer. Zum Jahrestag wird in Grafenberg ein Helferfest veranstaltet.

Eine Tübinger Psychologin und Jazzmusikerin berichtet von Wohnzimmerfenstern, die noch immer nicht repariert sind. Die Schadensaufnahme der 30 geborstenen Fensterscheiben und einiger Ziegel erfolgte rasch. Aber bis verschiedene Kostenvoranschläge da waren, vergingen Monate. Später hatte der Gutachter nicht sofort Zeit zur Beurteilung der Kostenschätzungen, schließlich ist die Warteliste vieler Handwerker noch immer sehr lang.

Im Autohaus achtet man heute mehr auf das Wetter

Der Kfz-Meister eines Ford-Autohauses in Kusterdingen hat den August und den September 2013 vorwiegend damit verbracht, einige Hundert Frontscheiben und Rücklichter auszutauschen. „Das ist bis auf wenige Fahrzeuge erledigt“, sagt er. Und er berichtet von sehr vielen Totalschäden, vor allem bei Autos, die vor 2008 hergestellt worden sind. Deren Zeitwert habe zwischen 8000 und 11 000 Euro betragen. „Die Schäden lagen oft bei rund 15 000 Euro“, berichtet er. Die Dellen im Lack waren – im Gegensatz zu den Folgen vieler anderer Hagelunwetter – so groß, dass Lackarbeiten unumgänglich waren. Die Gebrauchtwagenflotte auf seinem Hof war ebenfalls ein wirtschaftlicher Totalschaden.

Fahranfänger kauften einige der optisch schwer gezeichneten, aber technisch zuverlässigen Fahrzeuge, andere tauschten ihre Altfahrzeuge aus. „Wie in Zeiten der Abwrackprämie“, kommentiert der Meister. Das Autohaus profitierte immerhin von den vollen Auftragsbüchern eines benachbarten Rollladen- und Jalousie-Instandsetzers. Der sei bis heute jeden Tag mit 15 Fahrzeugen im Einsatz, einige der Kombis sind neue Ford-Modelle. „Wir achten viel mehr als früher auf das Wetter“, sagt der Kraftfahrzeugmeister: „Bei Anzeichen für ein Unwetter stellen wir anders als früher möglichst viele Autos in unsere Halle.“

Manche Fahrzeuge werden trotz ihrer Dellen weiter gefahren. Deren Halter sind zwar von ihrer Versicherung entschädigt worden, sie lassen ihre Autos aber nicht reparieren. „Das Geld stecken wir in die kaputte Solaranlage“, sagt ein Bewohner des Tübinger Österbergs, „die wurde von der Versicherung nämlich nicht ersetzt“.