Die Nordhessen mischen die Handball-Bundesliga auf und sind zurzeit Tabellenzweiter hinter den Rhein-Neckar Löwen, denen sie jüngst die erste Saisonniederlage beigebracht haben. An diesem Mittwoch wartet der Meister THW Kiel.

Stuttgart - Die Kartografie der Macht im deutschen Handball verschiebt sich in diesen Tagen nach Süden. „Hessen ist das jetzt neue Schleswig-Holstein“, feixt Axel Geerken, der Geschäftsführer der MT Melsungen. Der Slogan ist nicht ganz ernst gemeint. Natürlich kann der Club aus Nordhessen wie auch der Nachbar HSG Wetzlar mit den beiden norddeutschen Giganten der Branche, dem Rekordmeister THW Kiel und der SG Flensburg-Handewitt, finanziell wie auch sportlich nicht annähernd mithalten – eigentlich. Die Tabelle spricht zurzeit eine andere Sprache.

 

Die HSG Wetzlar belegt mit 19:9 Punkten Platz sechs. Und die Melsunger Turngemeinde 1861 hat sich nach dem furiosen 25:23-Heimsieg am Samstag gegen die bis dahin ungeschlagenen Rhein-Neckar Löwen aus Mannheim sogar zum ersten Löwen-Jäger gemausert. Nur zwei mickrige Punkte liegt der Club aus dem beschaulichen Städtchen Melsungen (13 000 Einwohner) vor dem Auswärtsspiel beim THW Kiel an diesem Mittwoch (20.15 Uhr/Sport 1) hinter dem Tabellenführer.

Die Melsunger selbst überraschen die Erfolge nicht

Euphorie entfachte vor allem der Triumph über die Löwen in der Kasseler Rothenbach-Halle, in der die MT Melsungen seit Jahren ihre Heimspiele austrägt. Viele der 4400 Fans feierten die Profis um den Kapitän Michael Müller noch beim Auslaufen für die intensivste Partie der Saison. Es war zwar kein Spiel für Ästheten dieser Sportart, aber ein hartes und doch faires Ringen um jedes Tor, garniert mit faszinierenden Zweikämpfen. „Wahnsinn“, jubelte der Ex-Nationalspieler Stefan Kretzschmar hernach per Twitter, „MeisterschaftsKAMPF“. Eine Spitzenmannschaft sei dieses Team, meinte danach der Löwen-Coach Nikolaj Jacobsen über den Gegner.

Deshalb erhöhe sich der Blutdruck in der Vereinsführung nicht, sagt Geerken: „Besonders aufgeregt sind wir nicht.“ Man versuche, solche großen Siege genauso realistisch einzuschätzen wie die bisher einzige Niederlage gegen den VfL Gummersbach. „Schon in den vergangenen zwei Jahren waren wir eine Mannschaft, die von allen gefürchtet war. Unterschätzt werden wir von niemandem mehr“, sagte der MT-Trainer Michael Roth nach der Partie.

Als Sensation betrachten die Nordhessen die eigenen Leistungen nicht. Schon zu Saisonbeginn meldeten sie hohe Ansprüche an. Mindestens Platz fünf soll es sein, um sicher im Europapokal zu spielen, erklärte der Regisseur Patrick Fahlgren, der wegen einer Kreuzbandverletzung noch fehlte. Der Linksaußen Michael Allendorf wollte sogar den dritten Platz angreifen.

Eine Mannschaft ohne Stars

Die Basis dieser hohen Ziele: eine eingespielte Mannschaft und Kontinuität im Club. Michael „Schorle“ Roth trainiert das Team seit 2010, Geerken arbeitet seit 2012 als Geschäftsführer, und der wichtigste Sponsor, „B Braun“, ist ebenfalls gefühlt seit einer Ewigkeit dabei. „Wir sind eine Mannschaft ohne Stars“, sagt der Kapitän Michael Müller, dessen Zwillingsbruder Philipp auf der anderen Halbposition im Rückraum spielt. Es gehe nur gemeinsam, mit einem starken Willen und viel Sinn für die Gemeinschaft.

Das Gerüst des Teams besteht aus deutschen Spielern wie den Müllers, dem Kreisläufer Felix Danner, Allendorf, dem Rechtsaußen Johannes Sellin und seit diesem Sommer auch dem Allrounder Timm Schneider, der aus Lemgo kam und das Team mit seinem wuchtigen Körper noch physischer und robuster machte. Fast alle diese Spieler zählen zum erweiterten Kreis des Nationalteams, gehören aber nicht „zur A-Kategorie“, wie es Geerken nennt.

Ergänzt durch ausländische Spitzenkräfte wie den Scharfschützen Momir Rnic und den Torwart Johan Sjöstrand greifen sie nun jedoch die Nomenklatura des deutschen Handballs an. Schon der Auswärtssieg bei der SG Flensburg-Handewitt war ein Fanal. An diesem Mittwoch in Kiel schauen viele Augen auf den schwedischen Nationaltorwart Sjöstrand, der die Liste gehaltener Würfe anführt (191 Paraden). Vergangene Saison stand er noch beim THW unter Vertrag und wurde trotz passabler Leistungen kritisiert. „Das wird für ihn sicher ein besonderes Spiel“, sagt Geerken, der weiß, wovon er spricht: Auch er trug einst als Torhüter das Kieler Trikot.