Wir mailen, twittern und simsen – ist die Handschrift eine vom Aussterben bedrohte Spezies? Die Generation Smartphone weiß sie offenbar mehr zu schätzen, als viele denken. Die neue Initiative Schreiben will wieder Begeisterung entfachen.

Stuttgart - Ein paar Notizen auf einem Schmierzettel, die obligatorische Einkaufsliste, die Unterschrift auf einem Kreditkartenbeleg – es gibt Tage, an denen dies die einzigen Dinge sind, die wir von Hand schreiben. Briefe? Tippen wir am Rechner, am Laptop oder am iPad. Urlaubsgrüße aus Korsika? Verschicken wir per SMS. Ein Dankeschön für die nette Essenseinladung am gestrigen Abend? Posten wir auf Facebook. In der Schule werden schon lang keine Zettelchen mehr unter der Schulbank weitergereicht, die Botschaften gehen per WhatsApp raus. Schlechte Zeiten für das handgeschriebene Wort.

 

Könnte man meinen. Doch eine Umfrage des Reutlinger Pragma-Instituts aus dem Jahr 2013, das mehr als 1000 Menschen über 16 Jahre nach ihrer Einstellung zur Handschrift befragt hat, bringt erstaunliches zu Tage. 89 Prozent stimmen der Aussage zu: „Handgeschriebenes ist von besonderem Wert.“ Überraschenderweise liegt der Anteil der Unterstützer bei den 16- bis 30-Jährigen – der Generation Smartphone – sogar noch um zwei Prozentpunkte höher. Und nach Ansicht von 71 Prozent sollen Füllfederhalter, Bleistift und Papier wieder vermehrt eingesetzt werden. Beflügelt von diesem Ergebnis hat sich vor wenigen Monaten ein Verein gegründet, der dem Tastaturgeklapper trotzt und sich die Förderung der Schreibkompetenz und Handschrift auf die Fahnen schreibt. „Alle reden von Leseförderung, wir wollen das Thema Handschrift aus der Isolation holen“, sagt Stefanie Hanfstingl-Kariger, die Vorsitzende der Initiative Schreiben. Mit Aktionen sollen insbesondere Kinder fürs Schreiben per Hand begeistert werden. Das soll so aussehen: Schüler verfassen auf einer Karte Grüße an ihre Eltern oder Großeltern, Glückwunschbriefe werden fotografiert und später prämiert. Damit die Freude am Handschriftlichen um sich greift, „müssen auch die Lehrer Feuer fangen“, sagt Hanfstingl-Kariger. Sie weiß, dass sie die Schulen zu ihren Verbündeten machen muss. Ein paar haben schon signalisiert, dass sie mitmachen werden.

Wer viel mit Hand schreibt, behält den roten Faden

Schreiben und Lesen lernen ist ein wichtiger Prozess, nur so können alle am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Hanfstingl-Kariger, die hauptberuflich in der Glückwunschkartenbranche tätig ist, sieht es als wichtige Aufgabe an, den Menschen Freude an der Handschrift zu vermitteln. „Die Handschrift ist die Verbindung zur Schreibkompetenz, wer viel mit Hand schreibt, der kann leichter Sätze bilden und behält den roten Faden.“ Die Mutter zweier schulpflichtiger Jungs weiß, wie schwer sich viele Kinder und manch Erwachsene damit tun, die eigenen Gedanken aufs Papier zu bringen, und sie kennt den Glaubenskrieg, der tobt, ob die Schreibschrift überhaupt noch zeitgemäß ist.

Die Forschung zeigt, dass es von Vorteil sein kann, seine Gedanken ohne technische Hilfe aufs Papier zu bringen. Schreibende Kinder haben besser entwickelte Hirne, lernen genauer Buchstaben und Formen erkennen und können ihre Kreativität einfacher entfalten. Den Gedanken vom Kopf in die Hand fließen zu lassen und als Schriftzug umzusetzen, „das ist eine hochkomplexe Tätigkeit“, sagt die Psychologin Sandra Sülzenbrück. Sie helfe, uns Dinge besser einzuprägen.

Die Handschrift verschwindet aus unserem Leben

Mit einem Team vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung in Dortmund fand Sülzenbrück heraus, dass das Schreiben per Hand die Feinmotorik fördert. „Die Technik macht etwas ganz anderes mit uns“, so Sülzenbrück. Hardcore-Tipper könnten nicht so präzise Bewegungen mit der Hand ausführen. Schlecht für denjenigen also, der Chirurg oder Feinmechaniker werden möchte.

Die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff beobachtet seit Längerem, dass die Handschrift aus unserem Leben verschwindet. „Ein Gesellschaftstrend, manch Schule scheint überfordert, und so manches Elternhaus vielleicht auch“, sagt die Büchnerpreisträgerin. Dabei sei es eine wunderbare Erfahrung, die eigene Handschrift zu mögen, sie schön zu finden. „Und stolz darauf zu sein, ein echtes Angeber-Pfund zu besitzen.“ Den Weg, Kinder zu begeistern, wieder mehr mit Hand zu schreiben, findet sie richtig. „Mich hat immer fasziniert, wie den Kleinen in China früh beigebracht wird, mit Stöckchen und Farbe die traditionellen Schriftzeichen zu malen, das verlangt hohe Konzentration.“

Handschrift ist Ausdruck unserer Persönlichkeit

Wort für Wort. Buchstabe für Buchstabe. Unsere Handschrift begleitet uns ein Leben lang. Sie ist individuell einzigartig, Ausdruck unserer Persönlichkeit. „Das Schreiben mit Hand ist eine Kulturtechnik, und das Ergebnis sagt viel über unseren Charakter aus“, sagt Helmut Ploog, Vorsitzender des Berufsverbandes der Deutschen Graphologen. „Anhand der Schrift kann man sehen, was der Mensch für ein Typ ist. Für Unternehmen ist das interessant: Denn je weiter jemand die Karriereleiter hinaufklettert, desto mehr Persönlichkeit ist gefragt.“ Doch Ploog und seine Kollegen registrieren, dass die Methode immer weniger Anhänger in Deutschland findet.

Hingegen werden in der Schweiz und Frankreich Bewerber anhand ihrer Handschrift durchleuchtet. Denn die Handschrift kann Geschichten erzählen. „Sie verrät viel über unsere Lebensbeziehungen“, sagt Ulrich von Bülow, Leiter der Archivabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Als die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé ins Leben des Dichters Rainer Maria Rilke trat, veränderte sich sein Leben. Das spiegelte sich auch in seiner Handschrift wider. Er schrieb klarer, schlichter. Sein Schriftbild wurde dem der Freundin immer ähnlicher. Das, so von Bülow, sei oft zu beobachten: „Die Handschrift folgt einem Vorbild.“ Seiner Ansicht wird das Schreiben per Hand nicht aussterben. „Die Handschrift hat die Schreibmaschine überlebt, und sie wird das Computerzeitalter überleben.“

Brief mit Hand schreiben, einscannen und per Mail verschicken

Nein, vermutlich wird die Handschrift nicht aussterben, aber sie wird sich verändern. Die Initiative Schreiben will daher auch keinen Gegensatz zur digitalen Welt aufbauen, sondern ein intelligentes Zusammenspiel ermöglichen. Per App das Schreiben auf dem iPad zu lernen, das ist so ein Beispiel. Wer genauer hinsieht, findet noch andere Menschen, die versuchen, die Handschrift zurückzubringen: Der Kurator Hans Ulrich Obrist dokumentiert auf seiner Instagram-Seite Handschriften von Künstlern, Schriftstellern und Musikern. Wie er in einem Interview verriet, leistet auch er einen persönlichen Beitrag, dass die Handschrift nicht aus unserem Alltag verschwindet: Er schreibt einen Brief mit der Hand, scannt ihn ein – und verschickt ihn per Mail.