Haus & Grund und der Mieterverein sehen einen dreimal größeren Neubaubedarf als die Stadt. Sie fordern eine Analyse des Bedarfs und präsentieren ein eigenes Gutachten.

Stuttgart - Der Verein Haus & Grund und der Mieterverein fordern die Stadtverwaltung auf, mehr für den Wohnungsbau zu unternehmen. Die Zielvorgabe von OB Fritz Kuhn (Grüne) von jährlich 1800 Wohnungen sei zu niedrig. Die Stadt kontert mit dem Verweis auf nachhaltigen „Wohnungsbau mit Maß“. Das Problem ließe sich nur innerhalb der Region lösen.

 

Die Vereine monieren, die Verwaltung habe ihre Zielvorgabe bisher nicht überprüft. Um ihrer Forderung nach einer Bedarfsanalyse Nachdruck zu verleihen, haben sie eine Expertise bei Michael Voigtländer vom Kompetenzfeld Finanz- und Immobilienmärkte im Institut der deutschen Wirtschaft Köln in Auftrag gegeben. Er weist darauf hin, dass die Bevölkerungszahl in Deutschland durch eine starke Migration – nicht nur Flüchtlinge kommen, sondern auch Arbeitskräfte aus Ost- und Südeuropa – um zwei Millionen höher liegt als prognostiziert. Diese Menschen zögen in die Ballungsräume. Die Einwohnerzahl von Stuttgart für 2015 sei mit 623 738 um 1,5 Prozent höher als prognostiziert. Im ersten Halbjahr 2017 sei die Bevölkerung um 515 Personen gestiegen. Dies sei eine Reaktion auf das mangelnde Angebot, gerade deutsche Haushalte suchten nach günstigeren Alternativen. Voigtländer fordert eine geringere Grunderwerbsteuer und eine Dynamisierung des Wohngelds. Zudem müssten Großstädte in die Höhe und die Breite wachsen.

Gutachter sieht einen Bedarf von mehr als 5000 Neubauwohnungen

Er kommt zum Ergebnis, dass in Stuttgart pro Jahr nicht nur 1800 Wohnungen gebaut werden müssten, sondern 5167 (bis 2020); davon resultieren 2690 aus dem natürlichen Bedarf, 812 müssten nachgeholt werden, weil 2015 und 2016 rund 6000 Wohnungen zu wenig gebaut worden seien; 1184 sind für Flüchtlinge nötig und 581 decken den Verlust von Wohnraum. Eklatant sei der Mangel bei Zwei- und Dreizimmerwohnungen. Hier sei der Bedarf zwischen 2011 und 2015 nur zu 33 beziehungsweise 28 Prozent gedeckt worden. Bis 2020 müssten 1140 Zwei- und 1616 Dreizimmerwohnungen gebaut werden sowie 1208 Einheiten mit mindestens fünf Räumen.

„Wir sehen uns in unseren Mahnungen mehr als bestätigt“, sagt der Vorsitzende von Haus & Grund, Stuttgarts ehemaliger Erster Bürgermeister Klaus Lang. Die Bautätigkeit decke nicht den Bedarf. Der Mietervereinsvorsitzende Rolf Gaßmann sagte, seit 2000 habe der Mieterverein vor einer Zuspitzung der Verhältnisse gewarnt. Nicht der demografische Wandel, sondern die wirtschaftliche Entwicklung sorge für den Zuzug. Jährlich gingen 2000 Stuttgarter in den Ruhestand. Diese Lücken füllten Zuzügler.

OB Kuhn soll den Schalter umlegen

Auch er erwartet von der Stadt, wie München oder Köln diesen Zahlen nachzugehen. OB Kuhn und der Gemeinderat müssten „den Schalter umlegen“, um die Bautätigkeit anzukurbeln. Sie fordern eine stärkere Verdichtung in Bestandsgebieten, etwa durch höhere Gebäude, sowie mehr sozialen Wohnungsbau. Eine intensivere Zusammenarbeit mit der Region sei gefordert, dort gebe es erhebliche Baulandreserven. Es bedürfe vor allem aber neuer Bauflächen, weshalb die Innenentwicklung nicht mehr Vorrang vor der Außenentwicklung haben dürfe. Die Vereine denken „an bereits bestehende Siedlungsflächen in den Außenstadtbezirken, um deren Infrastruktur zu nutzen“. Beispiele wurden nicht genannt. Laut Gaßmann könne die Stadt auf 700 000 Einwohner wachsen, ohne dass Lebensqualität verloren ginge. Für ihn ist „nicht jeder Acker schützenswert“. Auch ein begrüntes Gebäude sei ökologisch bedeutsam. Auch Lang verwies auf Kompetenz in Klimafragen: Deshalb schütze die Stadt die Halbhöhen vor Bebauung.

Die Verwaltung verteidigt ihre Politik. Stuttgart sei auch deshalb so attraktiv, weil die Hälfte der Fläche aus Wald, Landwirtschafts- oder Erholungsgebieten bestehe, betont Stadtsprecher Sven Matis. Diese Flächen würden gebraucht, damit sich der Kessel in heißen Phasen abkühle. Auf vielen Flächen seien Bauprojekte am Laufen. Zumindest bis 2020 gebe es ausreichend Potenzial, 1800 Wohnungen pro Jahr seien realistisch umsetzbar. In 20 größeren Gebieten könnten 3750 Wohnungen realisiert werden, zuzüglich 750 für Studierende. Matis nennt dafür etwa das Olga-Areal mit 224 Wohnungen, das Bürgerhospital (600) und den Neckarpark (600 bis 800). Zwischen 2005 und 2015 sind laut Stadt 17 200 Wohnungen entstanden. Die Zahl der fertigen Wohnungen sei binnen sechs Jahren von 1500 auf 2125 gestiegen. Die Stadt habe in den letzten zwei Jahren 90 Millionen Euro investiert. Auch im Haushalt 2018/19 sei „Wohnen“ ein Schwerpunkt.