Viele Schwangere müssen lange suchen­, bis sie einen Platz für die Entbindung in Stuttgart und der Region finden. Dabei steht nicht nur die Wahlfreiheit der Frauen auf dem Spiel, sondern auch die Gesundheit.

Familie/Bildung/Soziales: Lisa Welzhofer (wel)

Stuttgart - Linda Illner und ihr Mann hatten sich genau überlegt, wo ihr erstes Kind zur Welt kommen sollte. Sie hatten die Infoabende der Stuttgarter Kliniken besucht, Kreißsäle besichtigt, sich mit den Kriterien eines „babyfreundlichen Krankenhauses“ beschäftigt. Am Ende standen drei Häuser fest, in denen sie sich eine Entbindung gut vorstellen konnten: Filderklinik, Frauenklinik und Charlottenhaus. Doch zur Welt kam ihre Tochter im Herbst im Krankenhaus Esslingen. Denn als bei Linda Illner Wehen einsetzten, und sie schon vor der Tür der Filderklinik stand, bekam sie die Auskunft, dass die Station voll sei. Anrufe bei den anderen Wunschkliniken führten zum selben Ergebnis. „Wir hätten uns die Gedanken im Vorfeld sparen können“, sagt die 30-Jährige.

 

Eine Erfahrung, die derzeit viele werdende Eltern machen. Offizielle Zahlen, wie oft Frauen mit Wehen von den Kliniken in der Region Stuttgart abgewiesen werden, gibt es nicht. Aber in Mutter-Kind-Kursen und von Hebammen kann man solche Geschichten vermehrt hören. Wie die einer Frau, für die Rettungssanitäter eine halbe Stunde lang nach einem Krankenhaus suchten. Oder von der Stuttgarterin, die wegen Komplikationen schon in der Frauenklinik lag, aber zur Geburt nicht dort bleiben konnte und auch nach Esslingen verlegt wurde.

Steigende Geburtenzahlen führen zu Engpässen

Extremfälle, die aber für eine Entwicklung stehen, die Krankenhausverantwortliche wie etwa Pflegedirektorin Ursula Matzke vom Robert-Bosch-Krankenhaus (RBK) in Stuttgart bestätigen: Steigende Geburtenzahlen führen zu Engpässen in der stationären Geburtshilfe. Im RBK, zu dem das Charlottenhaus gehört, erhöhten sich die Geburtenzahlen von 2015 auf 2016 um sieben Prozent, also um fast 200 Säuglinge. „Wir haben deshalb das Personal in den Kreißsälen um 1,5 Stellen aufgestockt“, sagt Matzke. Wenn viele Frauen gleichzeitig kämen, müssten sie sich dennoch hin und wieder bei der Rettungsleitstelle vorübergehend abmelden und Frauen, die anrufen, an andere Kliniken verweisen: „Wir arbeiten dabei aber gut mit den anderen Stuttgarter Häusern und denen im Umland zusammen.“

Für Frauen kurz vor der Niederkunft bedeuten die Unsicherheit und die zusätzliche Fahrzeit puren Stress – und damit ein gesundheitliches Risiko. Das bestätigt Jutta Eichenauer, Vorsitzende des Hebammenverbands Baden-Württemberg. Sie weiß von zahlreichen Fällen aus der letzten Zeit, wo Frauen Probleme hatten, eine Klinik zu finden. „Wenn man nicht schon pressend vor der Tür steht, kann es derzeit leicht passieren, dass man weitergeschickt wird“, so Eichenauer.

Steigende Geburtenzahlen – in Baden-Württemberg lagen sie zuletzt mit 1,51 Kindern pro Frau so hoch wie seit 1974 nicht mehr – sind aber nur ein Grund dafür, dass es in den Kreißsälen vermehrt eng wird. Der gravierendere Grund ist der akute Hebammenmangel, der ganz Deutschland betrifft. In der Stuttgarter Frauenklinik können aktuell fünf von 30 Vollzeitstellen für Hebammen mangels Bewerbern nicht besetzt werden. Deshalb können laut der Kliniksprecherin Ulrike Fischer seit September im Durchschnitt nur 240 statt der üblichen 270 Geburten pro Monat stattfinden. Das Krankenhaus Mühlacker musste seinen Kreißsaal im Herbst 2016 mangels Hebammen für zwei Monate ganz dichtmachen. Die Kommunalpolitik versucht gegenzusteuern: „Indem wir zum Beispiel selbst ausbilden und den Hebammen im Klinikum eine Arbeitsmarktzulage zahlen“, sagt Michael Föll, zuständiger Bürgermeister in Stuttgart.

In kaum einem Kreißsaal sind alle Stellen besetzt

„Der hohe Arbeitsdruck ist ein Hauptgrund, dass Hebammen nur durchschnittlich vier Jahre in ihrem Beruf arbeiten“, sagt Jutta Eichenauer. Oft müssten ihre Kolleginnen drei bis fünf Frauen gleichzeitig während der Geburt betreuen und immer mehr administrative Aufgaben erledigen. Das hat Folgen für die Gebärenden: Beim Hebammenverband weiß man von einer zunehmenden Anzahl an Fällen, in denen Frauen die Geburt als „traumatisch“ empfinden, weil sie nicht ideal betreut würden. „Der Gesprächsbedarf frischgebackener Mütter ist enorm“, sagt Eichenauer.

Die Verbandsvorsitzende kennt kaum einen Kreißsaal, in dem derzeit alle Stellen besetzt sind. Dabei nimmt die Zahl der Fachabteilungen Frauenheilkunde und Geburtshilfe im Land ohnehin ab, wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen: Gab es 1991 noch 160 solcher Stationen in baden-württembergischen Krankenhäusern, sank diese Zahl bis 2015 auf 91 – und damit um 43 Prozent. Auch die Anzahl der Betten halbierte sich nahezu von 7330 auf 3759. Damit liegt das Land über dem Bundesdurchschnitt: Deutschlandweit ging die Zahl der Fachabteilungen um 35 Prozent zurück von knapp 1275 auf 834. Ähnliche Werte weisen große Bundesländer wie Bayern oder Niedersachsen aus.

Vor allem sind Schwangere auf dem Land betroffen

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKGEV) erklärt die Entwicklung mit einer zunehmenden Zentralisierung der Gesundheitsversorgung. Aber auch damit, dass viele Krankenhäuser Verluste machten und sich deshalb aus der personalintensiven und teuren Geburtshilfe verabschiedeten. In Baden-Württemberg weiß die DKGEV von mindestens elf Geburtshilfestationen, die in den vergangenen fünf Jahren geschlossen oder an größere Standorte verlagert wurden.

Das trifft vor allem Schwangere in ländlichen Gegenden: 13,39 Minuten beträgt laut DKGEV die durchschnittliche Fahrzeit im Land zur nächsten Geburtshilfestation, in manchen Gegenden, etwa im Rems-Murr-Kreis oder im Schwarzwald, liegt sie allerdings bei mehr als 20 oder 30 Minuten.

Hebammenmangel, Kreißsaalschließungen, steigende Geburtenzahlen – das ist die Gemengelage, die die Freiheit der Frauen, Ort und Art der Entbindung selbstbestimmt wählen zu können, zunehmend einschränkt. Denn immer mehr Hebammen verabschieden sich auch aus der freiberuflichen Tätigkeit, was Entbindungen zu Hause oder in einem Geburtshaus immer schwieriger macht.

Das baden-württembergische Sozialministerium hat nun einen Runden Tisch Geburtshilfe ins Leben gerufen. Bei der Auftaktveranstaltung kamen unter anderem Vertreter von Krankenkassen und -häusern, Ärzte und Hebammen zusammen. Im Mittelpunkt soll unter anderem die Frage stehen, wie die Arbeitsbedingungen der Hebammen verbessert werden können, und damit die Frage, wie viel Wahlfreiheit und gute Versorgung der Frauen der Politik und den Verbänden wert sind.

Linda Illner und ihr Mann jedenfalls mussten dafür bezahlen, dass in ihren Wunschkliniken kein Platz frei war. Auf der eiligen Fahrt nach Esslingen wurden sie auch noch geblitzt.