Zwischen Existenzphilosophie und Zeitdiagnose: der Philosoph Michael Theunissen erhält an diesem Montag posthum den Hegel-Preis.

Stuttgart - Wenn an diesem Montagabend im Stuttgarter Rathaus der Hegel-Preis 2015 an den Philosophen Michael Theunissen verliehen wird, muss die Veranstaltung ohne den Preisträger auskommen, denn der ist, kurz nachdem die Jury im März ihre Entscheidung für ihn getroffen hatte, am 18. April in Berlin im Alter von 82 Jahren gestorben. An seiner statt wird jetzt sein Sohn Oliver Theunissen die Auszeichnung entgegennehmen.

 

Vielleicht gibt dieser bedauerliche Umstand der Jury zu denken und veranlasst sie künftig, bei Wissenschaftlern, die für diesen angesehenen Preis in Frage kommen, nicht mehr zu warten, bis diese das Greisenalter erreicht haben. Die in der Jurybegründung formulierte Einschätzung, Theunissen könne „als einer der radikalsten und scharfsinnigsten Philosophen im Deutschland der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gelten“, hätte man guten Gewissens schon vor zwanzig Jahren treffen können, denn das Werk des Berliner Philosophen, das sich im Spannungsfeld von Hegel und Marx, Kierkegaard und Heidegger, Adorno und Benjamin bewegt, entspricht dem Anforderungsprofil des Preises wie wenig andere.

Die Verkehrung des Verkehrten

Am Anfang war Kierkegaard, dessen Schrift „Furcht und Zittern“ der 1932 in Berlin geborene Schriftstellersohn einmal als Schlüsselerlebnis seiner Jugend bezeichnet hat. Theunissens Eltern gehörten während der Nazidiktatur zur Bekennenden Kirche und versteckten in ihrem Haus Juden vor dem Zugriff des Regimes. Über den „Begriff Ernst bei Søren Kierkegaard“ hat der Philosophiestudent dann auch 1955 in Freiburg promoviert und sich während seiner weiteren akademischen Laufbahn mit dem dänischen Protestanten und Begründer der Existenzphilosophie immer wieder auseinandergesetzt. Diese Laufbahn führte Theunissen über die Stationen Bern und Heidelberg zurück in seine Heimatstadt Berlin, wo er bis zu seiner Emeritierung 1998 an der Freien Universität lehrte.

Von Kierkegaard hat Theunissen die Methode seines Denkens übernommen, die er als „dialektischen Negativismus“ bezeichnet hat. Gemeint ist damit, dass die Philosophie unter den herrschenden Bedingungen nicht mehr direkt sagen kann, was wahr, gut und schön ist. Sie muss stattdessen vom Falschen, Schlechten und Hässlichen ausgehen und dieses dann so über sich hinaustreiben, dass sich gleichsam als Verkehrung des Verkehrten die Wahrheit zeigt. So dachte schon Kierkegaard: Glaube zeigt sich erst in der Verzweiflung, Gnade in der Sünde, Freiheit in der Angst, Wahrheit in der Torheit, Seligkeit im Leiden, der allmächtige Gott im ohnmächtigen Christus. Von daher war es konsequent, dass Theunissen eine Sollensethik Kant’schen Typs ebenso ablehnte wie die Reduktion von Philosophie auf Lebenskunst. Zu den Philosophen, „die meinen, sie könnten das Geschäft von Seelsorgern oder Therapeuten übernehmen und Rat in schwierigen Lebenslagen erteilen“, zählte er auch „die selbst ernannten Politikberater“, wie er einmal klarstellte.

Rasender Stillstand

Kierkegaard gilt gemeinhin als Kritiker Hegels, indem er den „Einzelnen“ gegen Hegels System ausspielt, für das nur das Ganze das Wahre ist. In diesem Insistieren Kierkegaards und seiner existenzialistischen Nachfolger von Heidegger bis Sartre auf der individuellen Existenz, der „Wahrheit für mich“, sieht Theunissen zugleich deren Größe wie deren Grenze. Wie zuvor schon Adorno moniert er die Weltlosigkeit von Kierkegaards „Einzelnem“, weil der allein um sein Gottesverhältnis besorgt ist und die Welt dabei links liegen lässt. Deshalb kehrte Theunissen zu Hegel zurück, dem er zwei große Studien gewidmet hat, denn Hegel begreift Selbstverwirklichung nicht als etwas gegen die Gesellschaft Gerichtetes wie Heidegger und Sartre, für die das „Man“ und die anderen die Hölle sind. Hegel behauptet vielmehr, dass es „die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen“: Das Subjekt findet seine Wahrheit nur in der Begegnung mit dem Anderen, in der es zugleich außer sich und bei sich ist.

In diesem Spannungsfeld zwischen Existenzphilosophie und kritischer Zeit- und Gesellschaftsdiagnose, in dem sich Theunissens Werk bewegt, wird das Nachdenken über das Phänomen der Zeit zu einem zentralen Thema. Die Melancholiker leiden daran, so hat Theunissen im Austausch mit Psychiatern erfahren, dass sich in ihrem Leben nichts ändert, vielmehr die ewige Wiederkehr des Gleichen herrscht. Auch der Kreislauf des Kapitals in den modernen Gesellschaften produziert einen rasenden Stillstand, wo trotz permanenter Veränderung nichts prinzipiell Neues erscheint. Ihn beunruhige an der gegenwärtigen Bewusstseinslage am meisten „der Mangel an Zukunftsentwürfen, die weiter über den Tag hinausgreifen“.

Christliche Heilsbotschaft mit den Mitteln der Philosophie

Deshalb kommt er schließlich doch wieder auf Kierkegaard zurück, auf dessen Diagnose der Verzweiflung, die er in seiner Schrift „Die Krankheit zum Tode“ der Moderne gestellt hat. Im theologischen Horizont von Kierkegaards Denken kann diese Verzweiflung über die ausweglose Notwendigkeit nur durch den Glauben überwunden werden, der „verrückt für Möglichkeit“ ist. Für die Möglichkeit nämlich, sich aus der Verstrickung in den universalen Schuldzusammenhang zu befreien durch einen radikalen Schuldenschnitt, der einen Neuanfang möglich macht. Theunissens Werk kann als der Versuch gelesen werden, die Wahrheit der christlichen Heilsbotschaft mit den Mitteln der modernen Philosophie noch einmal zu formulieren und den Marx’schen Gedanken, alle bisherige Geschichte sei nur Vorgeschichte gewesen, die eigentliche Geschichte als „Fülle der Zeit“ stehe noch aus, auf ihren theologischen Kern zurückzuführen.