Das Junge Ensemble Stuttgart bringt am Samstag „Heidi“ auf die Bühne. Der Regisseur Klaus Hemmerle will den Kinderbuchklassiker von Kitsch und allen Bergidyllen-Klischees befreien.

Kultur: Adrienne Braun (adr)
Stuttgart – - Sie rennt mit nackten Füßen über stoppelige Bergwiesen und tollt übermütig mit dem Ziegenpeter umher. Nun nimmt sich das Junge Ensemble Stuttgart den oft verfilmtem Roman „Heidi“ vor. Der Regisseur Klaus Hemmerle hat in Johanna Spyris Kinderbuchklassiker aus dem Jahr 1880 allerdings höchst aktuelle Themen entdeckt.
Herr Hemmerle, ist die Schweizer Bergidylle aus „Heidi“ nicht Kitsch pur?
Ja, klar, aber nicht nur. Wir haben verblüfft festgestellt, dass der Roman wahnsinnig aktuelle Themen beinhaltet – wenn man den Kitsch mal beiseite räumt. Den Kitsch haben spätere Generationen darüber gelegt, etwa die Japaner mit ihrem Zeichentrickfilm aus den siebziger Jahren und die vielen Fernsehserien.
Was sind die aktuellen Themen im Roman?
Patchworkfamilie, Identitätsfragen. Was uns im Kern interessiert hat, ist, wie ein Fremdling, ein Kind, in eine total neue Umgebung kommt und mit seinem Heimweh, seiner Sehnsucht nach Heimat und der Frage nach Identität kämpft.
Heidi ist bei Ihnen nicht mehr in der Schweiz, sondern schon in Frankfurt?
Ja, das ist der Trick: Wir erzählen die Geschichte von Frankfurt aus, wo ein merkwürdiges Kind ankommt und anfängt, von seiner Heimat zu erzählen. Diese Erzählungen werden immer farbiger und fangen an, Frankfurt zu verändern.
Die Natur kommt gar nicht zum Zuge?
Wir versuchen schon, über Theatermittel eine Bilderwelt für die Natur zu finden – da stößt man aber an natürliche Grenzen.
Heidi lebt glücklich beim Alpöhi, lernt allerdings nicht Lesen und Schreiben. Steckt in dem Buch letztlich auch ein Plädoyer, Kindern Bildung zukommen zu lassen?
Die Autorin Johanna Spyri ist sehr pädagogisch, wie man das damals als calvinistische Bürgersfrau sein musste. Das haben wir versucht rauszunehmen, aber wir vermitteln schon, dass es ein großer Reiz ist, Geschichten erzählen zu können – und dass Lesen dabei eine Rolle spielt. Lesen ist ja ein schöner, sinnlicher Vorgang.
Kennen Kinder heute noch „Heidi“?
Unsere Testkinder kannten „Heidi“, aber hauptsächlich aus dem Fernsehen. Inzwischen ist „Heidi“ ja auch ein Werbeartikel für die Schweiz: ein Mythos, der zu einer Touristenattraktion aufgebaut wurde.
Wenn man den vielen Fernsehfilmen glauben darf, haben Erwachsene heute eine große Sehnsucht nach den Bergen. Ist das bei Kindern auch so?
Ja, wir haben Kinder gefragt, wo sie leben wollen. Die Antwort: in den Bergen! Sie verbinden damit Abenteuer, die Begegnung mit Tieren, aber auch Spaß und Sport und Skifahren. Ich glaube, der Mensch hat eine Ursehnsucht nach einem nichtstädtischen, naturverbundenen Leben. Aber das ist vermutlich auch nur ein Klischee.
Wird in Ihrer Inszenierung der alte „Heidi“-Ohrwurm gesungen?
Nein, um Gottes Willen. Es reizt einen natürlich als Regisseur, das Lied zu zitieren. Aber wir haben uns einen coolen Soundtrack für Frankfurt und handgemachte Musik für die Berge ausgedacht.