Im thüringischen Oberweißbach, dem Heimatort der ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter, wird man den in München beginnenden NSU-Prozess aufmerksam verfolgen. Dass der Ort als rechtes Nest in Verruf geriet, ärgert viele Bewohner bis heute.

Heilbronn/Oberweißbach - Beate Kopf beschreibt den 25. April 2007 so: „Da hört man im Radio zuerst, dass eine junge Polizistin in Heilbronn erschossen wurde, denkt ,wie schrecklich‘ und blättert innerlich um. Dann hört man, dass sie aus Thüringen war, und schließlich klingelt das Handy . . .“ Weil die mittlerweile in Norddeutschland lebende Pastorin Beate Kopf, die vor sechs Jahren noch in Oberweißbach in Thüringen arbeitete, damals auch Notfallseelsorgerin war, musste sie der Mutter der jungen Polizistin, Annette Kiesewetter, die Nachricht vom Tod ihrer 22-jährigen Tochter überbringen.

 

Am 25. April 2007 hatten die beiden Bereitschaftspolizisten ihren Streifenwagen auf der Theresienwiese mitten in der Stadt geparkt, vermutlich um ihre Mittagspause dort zu verbringen. Gegen 14 Uhr hörten Zeugen mehrere Schüsse. Danach fanden Polizeibeamte die 22-jährige Michèle Kiesewetter tot, ihren 24-jährigen Kollegen schwer verletzt neben dem Wagen. Man hatte beiden in den Kopf geschossen. Die Dienstwaffen und Handschellen der Beamten fehlten. Der verletzte Polizist lag mehrere Wochen im Koma und hat jede Erinnerung an die Tat verloren.

„Viel mehr als die Hand halten kann man nicht tun“

Viel mehr als die Hand halten könne man in einer solchen Situation zunächst nicht, sagt die Pastorin. Der Tod von Michèle Kiesewetter sei auch für sie eine tiefe Erfahrung gewesen. Sie hat die junge Frau begraben. Die größte Dorfkirche Thüringens war voll besetzt, es kamen neben Verwandten, Freunden und Nachbarn auch Hunderte von Kollegen aus Baden-Württemberg.

Michèle Kiesewetter gehört zu den Opfern, die das rechtsterroristische NSU-Trio nach allen heutigen Kenntnissen auf dem Gewissen hat. Sie ist das einzige Opfer ohne Migrationshintergrund. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages wird sich schon diese Woche mit den Heilbronner Vorkommnissen befassen.

Im Prozess wird es auch darum gehen, was für ein Mensch die Angeklagte Beate Zschäpe ist. Welcher Mensch Michèle Kiesewetter war, wird für die Wahrheitsfindung kaum eine Rolle spielen. „Es halten sich alle raus, keiner steht dazu, da waren wir trotz Stasi zu DDR-Zeiten noch offener“, sagt eine Bekannte der Familie Kiesewetter, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Der Verdacht, den der damalige Chef des Bundeskriminalamts Jörg Ziercke geäußert und nie öffentlich zurückgenommen hat, nämlich dass Oberweißbach und Kiesewetters familiäres Umfeld sich im Dunstkreis von Neonazis befand, hat den Ort und seine Menschen tief getroffen. Wie die Familien der türkischstämmigen Opfer war auch die Familie Kiesewetter falschen Verdächtigungen ausgesetzt. Geschwiegen werde auch, weil einige Journalisten vielen das Wort im Mund herumgedreht habe, sagt die Frau.

„Die Mutmaßungen waren entsetzlich für die Mutter“

Oberweißbach ist ein staatlich anerkannter Erholungsort im Nationalpark Thüringer Wald mit knapp 200 Einwohnern. Als kurz nach der Wende ein paar Kerle mit Ketten in der Hand und in Springerstiefeln durch den Ort marschierten und auf Oberweißbacher Bürger losgingen, sagt die Frau, „da wussten wir noch nicht mal, dass das Rechte sind“. Pastorin Kopf sagt: „Was mich maßlos wütend gemacht hat, das waren die Mutmaßungen über Verbindungen zur rechten Szene. Da stehen mir heute noch die Haare zu Berge, das ist der typische Umgang mit Opfern und entsetzlich für die Mutter.“

Annette Kiesewetter redet nur über ihre Anwältin Birgit Wolf, die die Mutter seit sechs Jahren begleitet. Im Gespräch erinnert sie daran, dass Michèle als Polizistin den Staat und seine Menschen schützen wollte – und damit auch die hier lebenden Migranten. Die junge Frau habe immer Polizistin werden wollen und sei von ihrer „Mutti“ darin bestärkt worden, das wissen alle Oberweißbacher. Ein gutes und enges Verhältnis habe Mutter und Tochter verbunden. „Sie war ein lebhaftes, kleines Mädchen, lustig, selbstbewusst, interessiert und mit wunderschönen Augen“, sagt eine Oberweißbacherin über sie. Auch die Pastorin erinnert sich an Michèle schon als Kind, sie war fast im gleichen Alter wie ihre Tochter und gelegentlich bei ihnen zu Hause gewesen. Kopf sagt, sie habe Michèle als ruhigen und ausgeglichenen Menschen kennengelernt. Sie sei ganz in ihrem Kirmes-Verein aufgegangen. Dort vermisse man sie besonders. Beim letzten Besuch in ihrer Heimat ist die Polizistin trotz des bevorstehendem Festes vorzeitig zurück zu ihrem Einsatzort nach Böblingen gefahren, um für einen Kollegen einzuspringen.

Die Frage nach dem „Warum“ ist immer noch ungeklärt

Vor allem die Böblinger Kollegen hätten sich auch später sehr um die Familie gekümmert, sagt die Anwältin Birgit Wolf. Die Mutter sei froh über Unterstützung und Zuwendung. In den vergangenen sechs Jahren habe sie erst den Tod ihrer Tochter verkraften müssen, dann die Tatsache, dass die Täter nicht ermittelt wurden, dann die Wende, als die NSU-Terrorzelle aufflog und die Waffen gefunden wurden. Annette Kiesewetter, die als Nebenklägerin auftritt, erhofft sich von dem Prozess, dass ihre Frage nach dem „Warum“ vielleicht doch geklärt wird. Der Heilbronner NSU-Mord gilt immer noch als der rätselhafteste der Serie. Auch die Anwältin zeigt sich überzeugt davon, dass die Täterschaft in dem Prozess geklärt wird. Es gebe massive Hinweise darauf, dass man mit dem Mordanschlag auf zwei Polizisten an den Grundfesten des Staates rütteln wollte: „Michèles Mutter will Aufklärung und eine gerechte Strafe für die Täter“, berichtet sie.