Gökay Sofuoglu hat als Sozialarbeiter die Entwicklung des Viertels am Nordbahnhof mitgeprägt. Die Menschen sind hier verwurzelt, eine eigene Art von Stadtkultur ist entstanden.

Stuttgart - Gökay Sofuoglu beschreibt das Stuttgarter Nordbahnhofviertel als eine Insel. Eine überschaubare Insel zwischen Pragstraße und Heilbronner Straße, durchzogen von der Stadtbahntrasse. Und Gökay Sofuoglu meint das durchaus positiv. Denn auch wenn die Insel ihre Bewohner zeitweilig separiert, so kann sie ihnen durchaus Schutz bieten.

 

Das Nordbahnhofviertel ist in den vergangenen zwanzig Jahren auch Sofuoglus Insel geworden. Im Alter von 18 Jahren ist er aufgrund der politischen Situation aus der Türkei nach Deutschland gekommen. 1990 begann seine Zeit im Stuttgarter Norden – zunächst als Bettler. Genauer, in der Verkleidung eines Bettlers, als der er beim Martinsumzug im Nordbahnhofviertel teilgenommen hat. Heute, gut zwanzig Jahre später, kann er kaum zwei Meter in der Nordbahnhofstraße zurücklegen, ohne zu grüßen, Hände zu schütteln oder ein „Wie geht’s?“ zu rufen. Nach dem Martinsumzug ist Sofuoglu schnell aufgestiegen, er ist Erzieher geworden, dann Sozialarbeiter und schließlich, vor zehn Jahren, der Leiter der sozialen Einrichtung Haus 49 der Caritas an der Mittnachtstraße. Damals stand das Haus noch an der Nordbahnhofstraße 49.

Sofuoglu ist schnell zum Gesicht des Haus 49 geworden, er hat das Wirken und auch den Erfolg der Einrichtung maßgeblich mitgeprägt. Sie zeigt, wie Integration aussehen kann: Die Kinder werden von klein an aufgefangen, die Einrichtungen im Viertel wie Schulen, Kindergärten und Kirchengemeinden arbeiten in einigen Punkten zusammen. Viele, die Sofuoglu hier auf der Straße trifft, kennt er deshalb von Kindesbeinen an, er hat sie begleitet, durch sämtliche Phasen hindurch. „Sie ist auch bei uns aufgewachsen“, sagt er an diesem Tag oft.

Die Menschen sind verwurzelt

Eine Phase kennt er besonders gut: „Es ist die, in der viele wegwollen“, sagt er, „manche kommen aber schon nach drei oder vier Monaten wieder zurück.“ Denn viele, sagt er beim Spaziergang durch die Straßen, seien hier sehr verwurzelt. Es gebe starke Familienbande. „Wenn die Kinder nach der Schule nach Hause gegangen sind, hatten sie mehrere Haushalte als Anlaufstelle“, sagt Sofuoglu.

Die Menschen fühlten sich hier wohl, er kenne einige, auch ältere, die nicht wegziehen möchten. Weshalb der Ruf des Nordbahnhofviertels dennoch so schlecht sei? „Wenn in einem Bezirk viele Migranten wohnen, dann wird der Ruf automatisch schlecht“, sagt er. Das Gleiche passiere mit dem Hallschlag.

Gleichwohl räumt er eine Separierung der Bevölkerungsgruppen im Bezirk ein. Doch der Stadtteil befinde sich derzeit im Wandel. „Das Nordbahnhofviertel steht im Zentrum von Stuttgart 21“, sagt er. Die Zukunft sei ungewiss, die Bewohner wüssten nicht, was auf sie zukommt, ob die Mieten steigen und ob sie sich das Leben im Stuttgarter Norden noch leisten können. Doch damit ändere sich auch der Partizipationswille und das Bedürfnis, mehr zu erfahren über das, was im Bezirk geschieht. Mit Informationsveranstaltungen will er dem entgegenkommen, auch die OB-Wahl sei gerade Thema. „Viele Portugiesen oder Italiener kamen mit ihrem Wahlberechtigungsschein in mein Büro. Sie hatten keine Ahnung, was das ist“, sagt er.

Die Stadtkultur geht verloren

Die Veränderungen im Stadtteil folgen aber nicht nur baulichen Umstrukturierungen, sondern ebenso der allgemein zu beobachtenden Entwicklung, wie Sofuoglu sagt. Dort, wo früher in italienischen oder türkischen Läden Obst und Gemüse verkauft wurde, befinden sich heute große Supermarktketten. „Dadurch verliert der Bezirk an Stadtkultur, außerdem sind so Treffpunkte weggefallen“, sagt er.

Anfang des Jahres hat Sofuoglu die Leitung des Hauses 49 an die Sozialpädagogin Korina Smrcek abgegeben. Er arbeite nun wieder mehr „an der Basis“. Er sei noch nie ein Verwaltungsmensch gewesen, sagt er. Wie es in Zukunft weitergehen wird, weiß er noch nicht genau. Früher habe er gedacht, im Rentenalter zurück in die Türkei zu ziehen, irgendwohin in ein kleines Dorf. Doch die Situation dort lasse es nicht zu. „Ich werde mich von dem Gedanken verabschieden“, sagt er.