In die Stadtmitte strömt die ganze Region, um den Einkaufshunger zu stillen. Doch es gibt auch Ruhepunkte. Kurt Fuchs weiß, wo man dem Trubel entkommen kann.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart-Mitte - Über der Calwer Passage ist es grün. Gras und pflegeleichte Büsche wachsen neben dem gebogenen Glasdach. Mediterrane Tomatenranken und prachtvolle Blumen wären Kurt Fuchs zwar lieber, aber immerhin. Die Dachgärten seiner Nachbarn sind für die normalen Passanten, die aus der S-Bahnhaltestelle in die Passage laufen, unsichtbar. Aber von Kurt Fuchs’ kleinem, kaum mehr als einem Quadratmeter großen Balkon kann man sie wunderbar sehen. Nur, wer sitzt schon gerne auf dem Balkon, wenn unten – wie in diesem Moment – der Presslufthammer dröhnt? „Hier kündigt keiner Bauarbeiten an, mit Schmutz und Lärm muss man als Anwohner einfach leben“, sagt Fuchs, der seit 34 Jahren dort wohnt, wo sonst kaum einer lebt: mitten in Mitte, mitten in der Fußgängerzone Calwer Straße.

 

Kein anderer Bezirk repräsentiert das Großstädtische so wie Mitte. Tagtäglich strömen Tausende hierher, um in der City einzukaufen, zu bummeln, die Attraktionen zu besuchen, den Geruch der großen Stadt zu riechen. Die Königstraße mit den Geschäften, die Theodor-Heuss-Straße mit ihren Bars, sie prägen das Bild des zentralsten Stuttgarter Bezirks heute ähnlich wie Sehenswürdigkeiten wie das Alte und das Neue Schloss. „Was für die Leute ein Event ist, ist für mich Alltäglichkeit“, sagt der ehemalige Caterer, der zum Beispiel regelmäßig in der Markthalle und auf dem Markt einkauft. Die Königstraße hingegen meidet er, Shoppen sei für ihn nicht relevant, sagt der 62-Jährige.

Die Calwer Straße hat sich geändert, seit er in den 80er Jahren mit seinem Partner Eberhard hierher gezogen ist. Schmerzlich vermisst er den Kolonialwarenhandel von Oscar Zahn gegenüber seiner Wohnung, wo man sich mit dem Nötigsten und gutem Brot versorgen konnte. Zwar gibt es Läden, „die schon immer“ da waren wie das Kurzwarengeschäft der Familie Berger oder das Antiquariat Müller & Gräff. Doch hat die Calwer Straße ein neues Gesicht bekommen. Die Gastronomie habe den Einzelhandel mehr und mehr verdrängt, die Außenbestuhlung sei massiv geworden. Drei Restaurants habe es früher gegeben, jetzt könne man die Betriebe kaum zählen.

„Super Schnapsladen“

Kurt Fuchs zeigt auf ein Modegeschäft an der Ecke zur Langen Straße. Hier habe ein Herr Pflaumenbaum früher einen „super Schnapsladen“ betrieben. Alle wussten, dass er das Konzentrationslager überlebt hat. „Die fünfstellige Nummer auf seinem Arm zeigte er jedem“, erzählt er.

„Guten Tag, Herr Annunziata“, grüßt Kurt Fuchs den Chef der Trattoria Da Franco, der wie er in der Calwer Straße wohnt. Sie kennen sich schon lange und sind auf eine Art Leidensgenossen. Vor allem freitags und samstags könne man wegen der Feiernden kaum schlafen, stöhnt Angelo Annunziata. Wenn Kurt Fuchs sonntags um 10 Uhr zum Gottesdienst geht, macht in der Calwer Straße die Discothek erst zu. Fuchs hat seine Oasen gefunden, in denen er den Trubel vergessen kann – und genießt es, sie in wenigen Schritten zu erreichen. Er braucht kein Auto, hat gar keinen Führerschein. Dafür ist er viel zu Fuß unterwegs, winkt in Läden, wird von der Postbotin gegrüßt. Wer mit Kurt Fuchs unterwegs ist, vergisst die Anonymität der Großstadt. Man könnte meinen, Mitte ist ein Dorf.

Kurz hat Kurt Fuchs überlegt, ob er wegziehen soll, als sein Mann Eberhard vor vier Jahren überraschend starb. Sie waren als Caterer in Kanada, als Eberhard von einer Wespe gestochen wurde. Sie hatten nicht gewusst, dass er allergisch war. Fuchs hat Eberhard in Kanada bestattet und sich entschieden, in der Calwer Straße wohnen zu bleiben, wo er sich zu Hause fühlt. Über Eberhards Tod habe er den Weg zurück in die Kirche gefunden, sagt er. So sind es vor allem Orte des Glaubens, die er aufsucht, wenn er der Hektik der City entflieht: die Stiftskirche oder die Leonhardskirche sind solche Anlaufstationen, aber nicht nur.

Stiller Hoppenlaufriedhof

Einmal die vierspurige Theodor-Heuss-Straße überquert, ist er schon im Hospitalviertel. Auch hier ist es wegen der Bagger nicht gerade leise. Fuchs wirft einen Blick in die tiefe Baugrube des neuen Hospitalhofs, dann schaut er in der Begegnungsstelle Kompass vorbei, wo man Kaffee trinken kann und immer jemand da ist, der ein offenes Ohr für einen hat.

Ein paar Minuten später ist die Großstadt tatsächlich ausgesperrt. Die Vögel zwitschern, sonst ist es still auf dem alten Hoppenlaufriedhof mit seinen verwitterten Grabsteinen. Hier zeigt sich ein schönes, aber auch ein trauriges Bild von Mitte. Kurt Fuchs zeigt auf Kreuze, die irgendwann jemand in Teile getreten haben muss. „Sehr bedauerlich“ sei dieser Vandalismus.

Eine Papaya kaufen

Die Unterführung zum Unipark bringt ihn zurück ins Leben. Studenten liegen auf der Wiese. Er schätze die Vielfältigkeit des Bezirks, meint der gebürtige Stuttgarter. Auch bei seinem Lieblingsitaliener, dem Valle in der Geschwister-Scholl-Straße, ist mittags viel los. „Salve“, wird Fuchs vom Chef begrüßt. Über den Schlossplatz geht es zur Markthalle, eine Papaya bei seinem Stand kaufen. Als Caterer kam er täglich zu den Walkers und genießt die Privilegien des Stammkunden: „Schreiben Sie’s auf den gelben Zettel“, sagt er zum Abschied.

Wenn er wollte, könnte er sicher auch im Bohnenviertel beim Fachgeschäft Seifen Lenz anschreiben. Er kennt den Chef Heinz Rittberger über die Leonhardskirche. Erst kürzlich haben sie bei einer Konfirmation gemeinsam im Chor gesungen. Heinz Rittberger landete sogar auf dem Erinnerungsfoto einer afrikanischen Konfirmandin samt Großfamilie. „Das Foto müssen Sie mir zeigen“, sagt Fuchs, lacht, bezahlt, dann verabschieden sich die Männer herzlich mit Handschlag.