Der Hobbyhistoriker Oerny Lunke lebt die perfekte Synthese zwischen Geschichte und Moderne. Das gilt in gewisser Weise auch für Plieningen.

Plieningen - Bilder, immer wieder Bilder. Historische Aufnahmen von Plieningen, an die Wände gepinnt, auf dem Boden ausgebreitet. Dazu Tabakpfeifen, Schreibmaschinen, Trachtenmützen und so viele Fahrräder, dass nur ein Wirrwarr aus Lenkern und Pedalen zu erkennen ist.

 

Oerny Lunke gehören all diese Dinge. Andere Menschen würden die umgebaute Scheuer, die sich an Lunkes Wohnhaus an der Fraubronnstraße schmiegt, ein Museum voller Krempel nennen. Er nennt sie sein Atelier. Das ist bis unters Dach gefüllt mit Erinnerungen an den Ort, den Lunke seit 25 Jahren seine Heimat nennt. Und den der Hobbyhistoriker, Trachtenträger, Grafikdesigner und Harley-Fahrer schätzen gelernt hat. Hier ist der Weltenbummler, der als Bernhard Rudolf Lunke im Allgäu geboren wurde, hängen geblieben.

Plieningen ist ländlich

Obwohl Plieningen so ländlich ist wie kaum ein anderer Stadtbezirk. Oder gerade deswegen. Lunke sagt Sätze wie: „Plieningen ist ein Dorf.“ Und: „Da gibt’s nur drei Straßen rein, da hört die Straßenbahn auf, da hört alles auf.“ Dennoch hat es nichts Bösartiges, wenn Lunke so von seiner Wahlheimat spricht. Vielmehr liegt Zärtlichkeit in seiner Stimme, als ob er es mit einem ungezogenen, aber liebenswürdigen Kind zu tun hat. Die Schönheit dieses Kindes bekannt zumachen, das hat sich Lunke vorgenommen. „Flecka-Sponsoring“, nennt er das in breitem Schwäbisch. Den Rosenzweig etwa mit den drei Blüten, das Wahrzeichen der Plieninger, will Lunke im Ort etablieren. „Jeder soll den kennen, bis ich in den Sarg hopf“, sagt er.

Geschichte trifft Moderne, das offenbart sich in Lunkes Atelier. Auch sein neuestes Steckenpferd zeugt davon. Lunke hat historische Besonderheiten im Bezirk auf Tafeln verewigt. Weil ihm das nicht reicht, hat er QR-Codes entworfen. QR ist die Abkürzung für Quick Response, „schnelle Antwort“. Die schwarz-weißen Symbole bergen verschlüsselte Informationen zu jenen Orten. Wer mit einem entsprechend ausgerüsteten Handy durch Plieningen läuft und sie einscannt, kann die Daten abrufen. Multimedia in Stuttgarts südlichstem Dorf, für ihn ist das kein Widerspruch – auch wenn er sich „wie der Aff im Urwald“ fühlt, weil er versucht, den Plieningern solche Neuerungen nahezubringen.

Ohnehin müssen die sich an das Neue gewöhnen. In den vergangenen Jahren ist in Plieningen enorm viel gebaut worden. Kürzlich erst ist die Stadt mit der Ortsmitte fertig geworden. 6600 Quadratmeter Pflasterfläche haben die Tiefbauer verlegt, 2,2 Millionen Euro brauchten sie, um die Wege im Zentrum in einen Einbahnstraßenring zu verwandeln. Für Lunke ist das gut investiertes Geld. „Das sind die Champs-Élysées von Plieningen“, sagt er, als er die Filderhauptstraße mit ihren neuen breiten Gehwegen entlangspaziert. Nur die Ampeln stören. Die sollten die Stuttgarter auf ihrem Marktplatz aufstellen, findet Lunke.

Unzählige Anekdoten

Zu allem und jedem weiß er eine Anekdote. Etwa zu dem unscheinbaren Haus am Beginn der Turnierstraße. Einst war im Keller ein Gefängnis untergebracht. „Die Buben standen an den vergitterten Fenstern und haben die Gefangenen beschimpft“, erzählt Lunke mit leuchtenden Augen. Heute hat einer von Lunkes Bekannten aus den Arrestzellen Gästezimmer gemacht. Auch die nächste Station steht für die Synthese von Gewachsenem und Neuem. Frisch saniert ist es, das Alte Rathaus am Mönchhof. „Über das dunkle Rot der Fassade kann man streiten“, sagt Lunke, ihm hätte Beige besser gefallen. Aber der Bezirksbeirat wollte es so. Über dem Portal prangt die Jahreszahl 1747. Auch hier haben Stadt und Land investiert, um das historische Gebäude wieder instand zu setzen: 1,8 Millionen Euro hat das Projekt insgesamt gekostet.

Ob die Sanierung gelungen ist? Lunke nickt. Nur eins regt ihn auf: „Man hätte im Alten Rathaus das Heimatmuseum unterbringen sollen.“ Das ist im Zuge der Renovierung ausgelagert worden. Es soll eine neue Bleibe in der benachbarten Zehntscheuer finden. Die wird – wie könnte es anders sein in Plieningen? – demnächst auch saniert. Trotzdem, Lunke ist sauer auf die Stadt, weil die sich nicht gekümmert habe. Viele Plieninger hätten ihre Leihgaben abgeholt, bevor die Sammlung umgezogen sei. „Alles ist weg. So geht die Identität des Stadtbezirks verloren“, wettert er.

Dass sich die Stadt nicht kümmert, gilt laut Lunke auch für die Körsch, an der einst die Plieninger Mühlen standen. Der Bach gehört gerichtet, sagt er. Am tiefsten Punkt der Paracelsusstraße plätschert der Neckarzufluss durch sein Bett. Ein paar Meter weiter steht die Hanselmannmühle, laut Lunke Stuttgarts ältester Gewerbebetrieb. Heute hirnen dort die kreativen Köpfe einer Werbeagentur über neuen Slogans.

Mann in Tracht

Den Berg hinauf geht es am Paracelsus-Gymnasium vorbei, wo einst eine römische Villa stand. Am Monopteros macht der Mann in Tracht halt. Der Aussichtspunkt im Botanischen Garten der Uni Hohenheim ist ihm der liebste Platz im Bezirk. Von dort oben überblickt er das Körschtal, an klaren Tagen erkennt er in der Ferne die drei Kaiserberge. „Wer hat schon ein Schloss im Stadtbezirk?“, sagt er, und deutet hinüber zur Uni. Plieningen ist für ihn „die Perle der Filder“. So ist seine Wahlheimat im 19. Jahrhundert genannt worden, so steht es auf dem Latz seiner Lederhose.

Letzte Station ist wieder Lunkes Atelier. Dort steht ein Schaltkasten, groß wie ein Eisschrank. Darin laufen sieben Kilometer Kabel aus zehn Computern zusammen, die Lunke im Haus hat. Darauf steht in Anspielung auf Plieningens Postleitzahl in Frakturschrift: „No. 70599 lebt“. So schließt sich der Kreis aus Gestern und Heute.