Hans Greuter ist ein Hanseat, der aus Überzeugung im Norden Stuttgarts lebt und ein eigenes Internetmagazin für den Bezirk herausgegeben hat. Von sich selbst sagt er: „Ich bin ein Soziopath“.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Nord - "Geh’n wir mal um den Pudding“, sagt Hans Greuter. Oder erst mal auf die andere Straßenseite. Denn die Bank gegenüber seines Hauses, so nett der Blick von dort über den Talkessel schweift, die ist schon das Dritte, was ihn nervt. Vielmehr nervt der um die Bank zerstreute Unrat. Warum stellt die Stadt da keinen Mülleimer auf?

 

Bisher war die Runde um Nord-Stuttgart zwölf Meter lang. Greuter schnackt lieber, als Hügel hinan zu stapfen. Das Erste, was ihn nervt, war sein Nachbarhaus zur Linken, das Haus des Studentenvereins Hütte. Mit dessen Bewohnern „verbindet mich innige Hassliebe“, sagt Greuter, nicht, weil sie trinkfest sind: Dort feiern ihm zu viele, die nur glauben, trinkfest zu sein. Das Zweite, was ihn nervt, war das Haus rechts neben seinem. Dort eröffnet ein zweisprachiger Kindergarten in bester Lage, der mit prächtiger Sicht über die Stadt wirbt. Greuter brummelt etwas von elitär und typisch Killesberg. Da fährt übrigens die typische Killesberg-Frau vorbei: „Blondine im SUV“, sagt er, „davon gibt’s hier viele“.

Nicht, dass ihn der gesamte Norden nervt, Gott bewahre, „ich wollte nirgendwo sonst in Stuttgart wohnen“, sagt er. Er hat nur eine eigene Art, diese Zuneigung auszudrücken, eine, die der Schwabe als Bruddeln fehldeutet. Das liegt daran, dass Nord- und Süddeutsche zwei Arten von Humor pflegen, die so viel gemeinsam haben wie das Nordbahnhofviertel und die Halbhöhenlage. Greuter wollte über jene Kluft einst ein Buch schreiben, aber das Projekt ist gescheitert, „aus Faulheit“, sagt er.

„Ich bin Soziopath“

Einer, der sagt, dass er um den Pudding geht statt eine Runde ums Viertel, ist natürlich ein Nordlicht. Jedenfalls hat er die Zeit, die einen Menschen und seine Sprache prägt, in Hamburg verlebt. Eigentlich ist er der Falsche für diesen Rundgang, sagt er. Nicht, weil ein Nordlicht Stuttgart-Nord zu wenig kennt. Er hat jahrelang ein Internetmagazin über den Bezirk vollgeschrieben, als Hobby. Aber „ich bin Soziopath“, sagt er. Soll heißen: Er kennt kaum Menschen. Hier wohnt übrigens ein Herzchirurg, dort ein Juwelier, da vorn eine Konzernerbin, ums Eck die Chefin einer Werbeagentur. In das Haus, in dem er früher lebte, ist der Ex-Minister Christoph Palmer eingezogen, „der mit der Ohrfeige“, sagt er.

Klar kennt er nicht nur seinen Pudding. Ein Spaziergang zum Nordbahnhof wäre eine Runde um die ganze Puddingfabrik, aber den kennt er auch. „Das ist eine andere Welt“, sagt er, „eine, in der klar wird, dass die wahren Probleme der Gesellschaft nicht Grundstückspreise und Aktienkurse sind“. Allein einer Sprache wegen, in der Derbheiten sich orgiastisch mit Fremdwörtern paaren, würde er zum Mittler zwischen den Welten taugen. Ein wenig hat er versucht, oben am Killesberg zu erklären, wie die unten leben. In seinem Lokalmagazin schrieb er über das Sozialzentrum Haus 49 und das Männerwohnheim am Nordbahnhof. „Das war hoch interessant zu sehen: So kannste auch enden“, sagt er.

Ein Manko im Norden

Dies ist ein Aussichtsplatz. Auch „davon gibt es hier viele“, sagt Greuter, Plätze, von denen einer oben auf viele unten herabsehen kann. Nicht, dass dieser etwas Besonderes hätte, aber wer hier um den Pudding führt, für den sind Aussichtsplätze Pflicht. Und Türme. Dieser ist der Kriegsbergturm, 1895 erbaut. Der Name hat nichts mit Krieg zu tun, sagt Greuter, anders als zumindest im weiteren Sinne der Bismarckturm. Den Weg dorthin erspart er sich. Über den ganzen Schnack ist auf dem ersten Viertel des Wegs um den Pudding schon die halbe Zeit vergangen. Ein Plätzchen zur Einkehr könnte trotzdem verlocken. Aber „das ist ein Manko im Norden“, sagt Greuter, „eigentlich gibt es nur die Maria“. Klar könnte er sich ins Clublokal des TC Weißenhof setzen, gleich da unten, aber das ist wieder arg Killesberg: „Schweineteurer Chardonnay und Geschäftsgespräche.“

Hier rechts hat Theodor Heuss gewohnt, schwäbisch-bescheiden, anders als sein Zeitgenosse Konrad Adenauer, „der hat schon damals feiner residiert“, sagt Greuter. Der Weg zum Höhenpark führt von hier bergab. Was Unkundigen als Gipfel des Killesbergs gilt, ist der Gähkopf. Der eigentliche Killesberg ist Teil der Feuerbacher Heide. Auf dem drehen sich die Kräne, damit Franz Fürsts neues Stadtviertel auf dem einstigen Messegelände fertig wird. Das „wird insgesamt ein Bereicherung, glaub ich“, sagt Greuter und ist verdächtig, den Satz des Ehefriedens wegen zu sprechen. Seine Frau ist Fürsts Pressesprecherin. Zum Ausgleich plaudert er von „Wohnungspreisen jenseits von gut und böse“.

Nebeneinander von Beton und Natur

Im Norden wird gebaut.Heinz Heiss

Hinter der Baustelle steht die Kunstakademie samt Weißenhofsiedlung. Über die weiß ohnehin jeder alles. Davor ist wieder ein Aussichtsplatz. Dieser hat etwas Besonderes, denn zwei Treppenabsätze tiefer werkelt ein Schrebergärtner. Das ist ein Teil dessen, was Greuter im Norden so mag: das Nebeneinander von Beton und Natur. Aus seinem Garten hat ihm ein Fuchs einen Schuh gestohlen. Einen Steinwurf den Berg hinunter landet an turbulenten Tagen alle paar Stunden ein Rettungshubschrauber auf dem Katharinenhospital.

Drunten im Kessel wächst die Baustelle ums Büchergefängnis, wie Greuter die Bibliothek nennt. Abgesehen vom Schrebergarten hat der Blick nach unten von diesem Aussichtsplatz gleichsam symbolische Bedeutsamkeit. Links ist ein Zipfel des Nordbahnhofs sichtbar, jener anderen Welt. „Ich finde es ungeil, wenn einer mit 50 rausgekickt wird und nichts dafür kann“, sagt Greuter, „wenn der Staat sich darum nicht kümmert, besuchen diejenigen irgendwann die anderen“ – und zwar mit dem Knüppel. Im Norden wäre der Weg dafür kaum weiter als einmal um den Pudding.