Die Kostümverleiherin Elisabeth Oechsle ist im Westen umgeben von außergewöhnlichen Läden, Kneipen und Ateliers. Vor 13 Jahren war das noch anders.

Stuttgart-West - Mit dem rechnet ja auch keiner. Als der hübsche, höfliche Typ, dem das ausgewählte Zwanziger-Jahre-Outfit inklusive Melone so gut stand, den fürs Ausleihen nötigen Personalausweis zückte, verwandelte sich Elisabeth Oechsle in einen Teenager. „Mario Gomez, DER Mario Gomez?“, kiekste sie. Etwas Besseres sei ihr in dem Moment nicht eingefallen: „Können Sie sich vorstellen, wie peinlich das war?“

 

Dabei ist die Inhaberin des Kostümverleihs „Gewand“ in der Vogelsangstraße selbst eine, die nicht ungern mal unerkannt bleibt, die kleidsame Verwandlungen schätzt, weil man damit auch sich selbst ein Stück weit kaschieren kann. Weil sie extrem kamerascheu sei, wartet Elisabeth Oechsle an ihrem Lieblingsort, auf der Aufsichtsplattform über dem Karlshöhe-Biergarten, in waschechter Gründerzeit-Klamotte: langes, schwarzes Kleid zum wunderschönen, originalen Spitzenschirm, hinter dem man sich spitze tarnen kann.

Das passt. Schließlich ist der größte der Stuttgarter Innenstadtbezirke ein architektonisches Juwel aus eben jenen Jahrzehnten, in denen ein selbstbewusstes Bürgertum seine Häuser baute und mit Jugendstilelementen verzierte. Fratzen von Fabelwesen, Frösche, Fledermäuse und Frauen: Zu Ehren der Fassaden im Westen spielen wir eine Runde Hans-guck-in-die-Luft. Eine der herausragendsten Dekos findet sich in der Rötestraße: zwei Elefantenköpfe mit prägnanten Rüsseln tragen den Balkon am Eckhaus. „Sind die nicht unglaublich?“, meint Elisabeth Oechsle: „Wie im Orient.“

Elisabeth Oechsles Revier ist die Vogelsangstraße

Eine Ecke weiter ist Indien. In dem kleinen Lebensmittelladen, ebenfalls in der Rötestraße, kauft die Vegetarierin traditionell Linsen, Reis und höllisch leckere Ingwerbonbons. Die exotischen Stangen und Kugeln in diversen Größen und Farben, die hier neben den schweren Basmatireissäcken in Obst- und Gemüsekisten lagern, sind nicht mal dem Namen nach bekannt. Alles ist ein bisschen „wie Zucchini, wie Gurke, wie Kürbis, wie Litschi“. Eine Kundin sucht nach einer Flasche süß-saurer Chili-Mischung. „Wie Fischsoße?“, fragt die Verkäuferin und lacht.

Elisabeth Oechsle trägt die Tüten durch ihr Revier – die Vogelsangstraße. Vorbei am liebevoll dekorierten Schaufenster von Matoshimo, dem Papierdrucker und Faltkünstler, der sich vor nicht allzu langer Zeit hier angesiedelt hat und eigentlich gar kein Japaner ist. Akkurat, fast höflich neigen sich im Innern Nähmaschinentisch und Schreibtisch einander zu. Hier wird selbst genäht und gestickt. Nur gestrickt wird von Muttern. Die Schaufensterpuppen tragen die gewagten großmaschigen Kleider. Daneben Zimtseifen in Totenkopfform, romantisierte Mangamagnete und hinreißende Plastiktaschen. Nicht weit entfernt: das bereits etablierte Vogelsangatelier, mit Handgefilztem, Gehäkeltem, Keramik, Kleidern und Papeterie.

Als Elisabeth Oechsle mithilfe eines Existenzgründerdarlehens ihren Kostümverleih am Bismarckplatz vor 13 Jahren eröffnet hat, deutete noch nicht viel darauf hin, dass dies bald das Viertel der hippen und ausgefallenen Läden und Ateliers werden würde. „Es war schön hier, aber ein bisschen spießig“, sagt sie. „Aber ich habe mir damals schon gedacht, dass der Westen das Potenzial für mehr hat.“ Und dann kam die zweite Gründerzeit: Einer nach dem anderen erweiterte das Sortiment an außergewöhnlichem Selbstgemachtem. Das Internet half beim Überleben: Viele würden ihre Sachen auch über das Netz in ganz Deutschland verkaufen, sagt die 48-Jährige, die ihren Sohn allein großgezogen hat. Sie selbst hat unzählige Outfits aus den unterschiedlichsten Epochen auf Lager, die vom Scheitel bis zur Sohle perfekt durchgestylt werden können: „Ein Kleid kommt ja nicht allein daher.“

An Porsche hat sie kürzlich für einen Werbetrailer Kinderklamotten aus den Seventies verliehen und an Breuninger Balkan-Accessoires zur Trachtenmode. Das Secondhand-Geschäft hat sie zurückgefahren, als plötzlich die großen Kleiderketten den Retrolook für sich entdeckten und die Imitate in Massen als Neuware auf den Markt kamen. Schätze aus den fünfziger bis siebziger Jahren, auch Möbel und Geschirr, findet sie im Shop Weißdorn in der Ludwigstraße – direkt neben dem Eltern-Kind-Zentrum, der Entspannungsoase für Mütter und Väter. Unweit davon der Leckerbissen Café Moulu und die schwülstig-charmant eingerichtete Kneipe Fischlabor, in der es fast alles gibt außer Fisch. Noch ein paar Schritte weiter am Feuersee findet sich Elisabeth Oechsles kulinarischer Lieblingsplatz: die Müslibar, die sich als Bio-Kiosk versteht und nussige Bircher Müslis auf der Speisekarte hat.

Bismarckplatz strahlt eine angenehme Weite aus

Zu ihren Favoriten in Sachen Aufenthaltsqualität gehört der Bismarckplatz an der katholischen Elisabethenkirche, der bei aller dichten Besiedelung eine angenehme Weite ausstrahlt. Hier sitzt sie gern auf einer Bank in der Sonne, im Blick die Eisdiele, in der ein so starker Espresso serviert wird, dass sich selbst hartgesottene Westler in Süd-Italiener verwandeln.

An der heruntergekommenen Ex-Apotheke um die Ecke endet die Runde. Und siehe da: die Türen stehen offen. Vor dem Haus parkt ein Wagen, in den Männer die historischen Holzmöbel einladen. Elisabeth Oechsle tritt ungeniert ein, bewundert den verstaubten Tresen und die maßgeschreinerten Schränke mit dutzenden von Schubladen. „Herrlich“, ruft sie aus. „Schon vergeben“, ruft einer der Männer, die in den Räumen arbeiten. Demnächst werde hier eine Gaststätte eröffnen. „Seh’n Sie?“, sagt Oechsle, „sogar hier tut sich was.“