Eberhard Hahns Geburtsort Untertürkheim ist sein Wohnort geblieben und seine Leidenschaft geworden – vor allem dessen Geschichte.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Stuttgart-Untertürkheim - Für Fremde vorab: die Türken haben Untertürkheim nie erobert. Der Ortsname leitet sich her vom Sippenoberhaupt Durink. Daraus wurde um 1200 Niederdurinkheim. Heute sind die größte Ausländergruppe in Untertürkheim die Griechen. Das ist einer der Gründe, warum ein Fremder gewiss nicht argwöhnen würde, dass die Nachkommen der Niederdurinkheimer einen Mangel an Gastwirtschaften zu beklagen haben. Allein auf der halben Minute Fußweg vom S-Bahn-Gleis zum Bahnhofsvorplatz laden neun Wirte in ihre Lokale ein. Aber „’s ischt nicht mehr so, wie’s war“, sagt Eberhard Hahn.

 

Das gilt selbstverständlich überall und immer. In Untertürkheim fließt nicht einmal mehr der Neckar dort, wo er hingehört. Dort fährt die Bahn. Und mit den Wirtschaften war es so: entlang der Augsburger Straße speisten die Herrschaften, die sich in Kutschen aus Stuttgart hatten herchauffieren lassen, in einem der exquisiten Restaurants. Die Widdersteinstraße hinauf, die heutige Fußgängerzone, reihten sich die Wirtschaften für die Wengerter aneinander. Weil viele Untertürkheimer das Angebot mehr schätzten, als guttat, standen am Zahltag die Frauen vor den Lokalen und versuchten zu retten, was in der Lohntüte steckte. Abgesehen von Kirche, Rathaus und Schule war eigentlich das gesamte historische Innendorf eine Wirtschaft.

Die Ortsgeschichte ist eng mit der Bahn verknüpft

„Grüß dich, Eberhard.“ Eberhard Hahns Geburtsort ist sein Wohnort geblieben und seine Leidenschaft geworden – vor allem dessen Geschichte. Zur jüngeren gehört er nach gut 70 Jahren als Untertürkheimer selbst. Etwa jeder Vierte, der ihm an diesem Markttag begegnet, grüßt ihn. Er ist Ehrenvorsitzender des Bürgervereins. Er hat damals, als der alte Bahnhof unter Denkmalschutz gestellt wurde, Lackschicht für Lackschicht von der Eingangstür gekratzt, bis die Originalfarbe zum Vorschein kam.

Dass inzwischen trotz Denkmalschutz sogar die historischen Fenster herausgerissen sind, schmerzt ihn geradezu körperlich. Aber was heißt alter Bahnhof? Auch der gehört zu dem, was nicht mehr ist, wie es war. „Der Bahnhof ist schon der dritte“, sagt Hahn. Die Ortsgeschichte ist eng mit der Bahn verknüpft. 1892 war Untertürkheim der größte Güterbahnhof im Land. Das war zwölf Jahre, bevor die Daimler-Motorenwerke die Produktion begannen. Ohne Daimler geht es in Untertürkheim selbstverständlich nicht. „Ich war 25 Jahre für Daimler als Repräsentant unterwegs“, sagt Hahn. Er steht vor einer Tafel, deren Inschrift berichtet, dass am 10. November 1885 Paul Daimler, der älteste Sohn von Gottlieb Daimler, ein Motordreirad zwischen Bad Cannstatt und Untertürkheim erprobte. Gemeinhin gilt der 29. Januar 1886 als Geburtsstunde des Automobils. An dem meldete Carl Benz seinen Motorwagen zum Patent an. Mit der Autoproduktion kam der Reichtum in den hochverschuldeten Wengerterort. Allerdings blieb er nicht, denn nach der Eingemeindung im Jahr 1905 floss das Geld nach Stuttgart.

Die historischen Daten sind der eine Teil der Geschichte. Zum anderen, dem interessanteren, gehört die Tochter des Schlossers. Der Schlosser hat gleich nach dem Krieg das Rad neu erfunden, das Rad für die Motorroller. Die polterten seinerzeit auf Reiflein durch die Schlaglöcher. Der Schlosser rüstete sie um auf Reifen in Motorradgröße. Dass er ein paar Hundert der Umbauten verkaufte, wurde zur Kenntnis genommen. Dass „seine Tochter immer Probe gefahren ist, war damals jedes Mal ein Ereignis“, sagt Hahn.

Zum unangenehmen Teil der jüngsten Geschichte gehört, dass Hahn vor einer verschlossenen Glastür steht. Die trennt den Vorraum der Stadtkirche von ihrem Kirchenschiff. Die gesamte Wand hinter dem Glas ist ein einziges Kunstwerk, ein zerlegbares zudem, damit der Raum wahlweise vergrößert oder verkleinert werden kann. Geschaffen hat es HAP Grieshaber, unter zwei Bedingungen: Das Material will er bezahlt bekommen, und sein Werk muss jederzeit für jeden zugänglich sein. „Aber vor ein paar Jahren ist hier randaliert worden“, sagt Hahn. Zwar ist unwahrscheinlich, dass die Täter Kunstfreude waren, aber Grieshabers Werk verschonten sie.

Ursprünglich gab es 14 Keltern

Die Bühne des Feuerwehrhauses war einst der öffentliche Platz für alle, die bei Regen ihre Wäsche trocknen wollten. Das Restaurant am Kelterplatz mogelt mit seinem Namen: „Zur Alten Kelter“. Denn die alte Kelter ist eben das heutige Feuerwehrhaus. Aber egal: ursprünglich gab es 14 Keltern. In den zwei Häusern dort vorn wurde der WG-Zoff erfunden. Sie schmiegen sich so dicht aneinander, dass wenig mehr als ein Arm zwischen sie passt. Das ist typisch fürs historische Untertürkheim. In diesen beiden teilten sich sogar zwei Familien ein Wohnzimmer. „Angeblich ging da ein Strich durch“, sagt Hahn. Im Hinterzimmer der Wirtschaft Der König Karl politisierten Theodor Heuss und Reinhold Maier bei Treffen der DVP, des Vorgängers der FDP. Das Schlössle, ein Kindergarten, war einst die Sommerresidenz des Unternehmers Max Straus. 1914 stellte er das Haus als Heim für bedürftige Kinder zur Verfügung. 1938 flüchtete er vor den Nazis.

„Ich könnte ewig so weitermachen“, sagt Hahn. Kein Zweifel. Zweieinhalb Stunden haben eben gereicht für einen Rundgang nur um die historische Dorfmitte. Hahn schlendert an der Silvrettastraße zurück zum Bahnhof. „Hier hatten alle Häuser Gärten“, sagt er. Die sind inzwischen zu Parkplätzen geworden. „Wir können uns nicht beschweren, wir leben vom Automobilbau“, sagt Hahn, „aber eigentlich hat der Autoverkehr dem Ort fast mehr geschadet als der Krieg“. Das wäre dann der ironische Teil der Untertürkheimer Geschichte.