Im Alter von 87 Jahren ist der langjährige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler gestorben – ein Mann, der wusste, dass auch Ungehorsam eine Tugend sein kann.

Berlin - Heiner Geißler, der am Dienstag im Alter von 87 Jahren verstarb, wird in Erinnerung bleiben – als Zuspitzer und Angreifer, als furchtloser Mahner und unermüdlicher Aufwiegler des Gewissens. Und doch war Geißler als Schlichter ein gefragter Mann. Nicht nur bei Stuttgart 21. Als Vermittler in vielen festgefahrenen Tarifkonflikten hat er sich einen Ruf erworben. Ausgerechnet er, der passionierte Unruhestifter, der doch auch ein Brückenbauer war.

 

Wer Ausgleich schaffen will zwischen sich widersprechenden Standpunkten, darf niemandem nach dem Munde reden. Der Vermittler muss innerlich unabhängig sein. Geißler war es stets. Gerade in seinem politischen Leben. In einem späten Interview hat er erklärt, wie er es damit hielt: Seine erste Loyalität habe immer den Menschen gehört, die ihn gewählt hatten. Die zweite habe den politischen Grundsätzen gehört. „Die dritte Loyalität gehörte den Personen in der Partei. Aber die machte ich davon abhängig, ob diese sich an der ersten und zweiten Priorität orientierten.“

Das Ringen um den Glauben blieb ein Lebensthema

Geißler wollte diese Arena eigentlich nicht, in der er Zeit seines Lebens stand. Nicht zum Meinungs-, sondern zum Glaubenskampf zog es ihn. Er wurde in Oberndorf am Neckar geboren, kam er auf das von Jesuiten geleitete Kolleg St.Blasien. Mit 19 trat er als Novize dem Orden bei. Priester und Missionar wollte er werden. Er hatte die drei ewigen Gelübde abgelegt: Armut, Keuschheit, Gehorsam. Mit 23 Jahren habe er gemerkt, dass er zwei davon nicht halten könnte, sagte er einmal. „Es war nicht die Armut.“ Das Ringen mit dem Glauben blieb ein Lebensthema. Auch Ungehorsam kann eine Tugend sein. Das lernte er in der Politik.

1956 gründete Geißler zusammen mit Erwin Teufel den Kreisverband Rottweil der Jungen Union. Fünf Jahre später war er schon Landesvorsitzender. In dieser Zeit etablierte er sich beruflich. Nach Philosophie- und Jurastudium war 1962 Richter am Amtsgericht Stuttgart, dann von 1962 bis 1965 Leiter des Ministerbüros von Arbeitsminister Josef Schüttler in der baden-württembergischen Landesregierung. 1965 zog er als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Reutlingen in den Bundestag ein.

Er wechselte dann 1967 als Sozialminister in die Landesregierung nach Rheinland-Pfalz. Er behielt das Amt, als 1969 Helmut Kohl Regierungschef in Mainz wurde. Da entstand das zweite große Lebensthema. Dieses dann letztlich wirklich fast lebenslange Ringen mit Helmut Kohl, dieses Miteinander, Füreinander, Gegeneinander. 1977 machte ihn Kohl, inzwischen Parteichef, zum Generalsekretär der CDU. Ab 1980 saß Geißler wieder im Bundestag und blieb Abgeordneter bis 2002.

Kohl verlangte Dankbarkeit

Kohl hat Geißler entdeckt und gefördert. Da ist ewige Dankbarkeit Pflicht. So sah es Kohl. Geißler nicht. „Er hatte mich nicht geholt, ich war gekommen“, hat er noch 2015 in einem Gespräch beharrt. Geißler jedenfalls hatte eine klare Konzeption von der Arbeit des Generalsekretärs. Die Partei, genauer gesagt das Konrad-Adenauer-Haus, sollte das programmatische Herzstück der CDU sein, Ideenschmiede, Motor und Zukunftswerkstatt – und nicht der Transmissionsriemen, dessen Aufgabe es wäre, blinde Gefolgschaft herzustellen. Ein neues Grundsatzprogramm wurde unter seiner Regie erarbeitet, eine neue Frauenpolitik entwickelt. Geißler wurde ein Machtfaktor. Ein Mann neben, nicht unter Kohl. Das war auf Bruch angelegt. Von Anfang an.

Im Tageskampf mit den politischen Konkurrenten war er nicht zimperlich. Er konnte herzhaft-schmerzhaft holzen. Seine Beschimpfungen sind legendär. Willy Brandt warf Geißler 1985 vor, „seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land“ zu sein. Geißler focht das nicht an. Unter seinem Wahlkampf-Führung gewann die CDU drei Bundestagswahlen.

Die politischen Gegner konnten ihm nicht gefährlich werden. Die Freunde schon. 1989 wollte Kohl keinen machtbewussten General mehr neben sich. Er schlug ihn dem Parteitag nicht mehr zur Wiederwahl vor. In der Partei begann es mächtig zu rumoren. Die Kohlsche Allmacht wurde infrage gestellt. Lothar Späth hatte Pläne, gegen Kohl um den Parteivorsitz zu kandidieren. Geißler, der tief getroffen war, unterstützte die Frondeure. Aber der Kohl überlebte den versuchten Putsch. Geißler blieb bis 2002 im Bundestag. Das Verhältnis zu Kohl blieb zerrüttet. Geißlers Urteil über Kohl in der Distanz vieler Jahre: „Kohl ist nicht der Gescheiteste von allen gewesen und auch nicht der ethisch Einwandfreieste. Aber er hat alle übertroffen in seinem Machtwillen.“

Er wurde zum Kritiker des kapitalistischen Systems

Geißler hat sich andere Kämpfe gesucht. Er hat sie nicht weniger lustvoll ausgefochten. Und wieder lässt sich diese gewisse Ironie erkennen, wenn Geißler gegen Ende seines Lebens gerade von denen hoch gelobt und respektiert wurde, die ihn einst bitter bekämpften. Aber tatsächlich hatte sich Geißlers Denken weiter entwickelt. Er trat „attac“ bei und attackierte das kapitalistische System, weil es „heute die Ursache für die Bürgerkriege, Armut und Hungersnöte, die wir auf der Erde haben“ sei.

Und vor allem war die Sache mit der Kirche nicht abgetan. „Sie müsste Widerstand leisten gegen die Mächtigen dieser Erde“, forderte er. „Frauenfeindlich“ nannte er die katholische Morallehre. Und er bekannte auf die Frage nach seinem Glauben an Gott: „Ich habe große Zweifel.“ Aber auch das sagte er: „Ich kann Jesus nicht fahren lassen.“ Er wünschte sich eine Kirche, die Konflikte anzettelt. Das nämlich ist die Summe seines Lebens: „Den Menschen zu helfen geht nur mit Streit, Auseinandersetzung, Kampf.“