Heinrich Steinfest lüftet in seinem neuen Roman „Das grüne Rollo“ das Geheimnis, wo Wirklichkeit und fantastische Hinterwelten aneinander grenzen. Doch beim Pendeln zwischen beiden Sphären ist ihm die Unbeschwertheit etwas abhanden gekommen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Was steckt hinter dem, was wir für die Wirklichkeit halten? Schön, wenn man einfach mal nachsehen könnte. Kindern scheint das leichter zu fallen, zumindest kennt die Literatur einige, denen es gelungen ist. Ein Mädchen namens Alice verschwindet in einem Reich hinter den Spiegeln, der kleine Harry wird am Gleis neundreiviertel in eine zauberische Parallelwelt versetzt, und ein gewisser Peter fliegt durch die Nacht nach Neverland, wo alte Piraten und ewige Jugend eine angenehme Zeit versprechen.

 

Einer, der mit Kindern auf gutem Fuß steht, ist der Erzähler Heinrich Steinfest. In seinem neuen Roman folgt er dem zehnjährigen Theo dorthin, wo viele kindliche Fantasiereisen ihren Ausgang nehmen: ans Fenster seines Kinderzimmers. Theo scheint in einer Welt geheimnisloser Harmonie aufzuwachsen, kämpft mit den üblichen Adoleszenten-Problemen, einem lästigen älteren Bruder, einer drallen Englischlehrerin und den Ahnungen der heraufdämmernden Sexualität: „In der Ferne wirkte der Sex auf mich wie eine komplizierte Sporttechnik. In der Art von Geräteturnen. Wenig Spaß, viel Verletzungsgefahr.“ In der Summe kann das durchaus dazu führen, dass man in diesem Alter gerne mal aus dem Fenster träumt und ans Sterben denkt. Doch was ist das?

Eingespannt in eine Fitness-Foltermaschine

Dort, wo vorher nichts war, hängt plötzlich ein grünes Rollo. Es verleiht dem Roman den Titel und Teilen des Schriftbildes die grüne Farbe. Durch dieses Rollo nämlich tritt man ein – wenn man das eher unwillkürliche Angesaugtwerden so nennen will – in eine Sphäre, die zwar grün, in all ihrer Befremdlichkeit aber durchaus vertraut erscheint.

Das liegt zum einen an dem gemütlich ausschweifenden Erzählton. Theo berichtet diese Ereignisse aus dem Jahr 2010 als Fünfzigjähriger, also im Rückblick aus der Zukunft des Jahres 2050. Doch die Weise, sich eine Geschichte gewissermaßen zu erplaudern, und sich noch in zugespitztesten Situationen – soviel Zeit muss sein – die Ausführung eines Gedankengangs zu gönnen, lässt diese Greenland genannte Welt, deutlich als eine Provinz im Erzählkosmos des Stuttgarter Autors Heinrich Steinfest erscheinen. Was den unheimlichen Begegnungen hinter dem Rollo etwas den Schrecken nimmt: den stummen priesterhaften Feldstechermännern ebenso wie der von ihnen ungerührt beobachteten ungeheuerlichen Szene eines Mädchens, das in eine Fitness-Foltermaschine eingespannt um sein Leben rennt.

Gefahren der Schwerelosigkeit

Denn wir wissen, Steinfests Helden können in der Not allemal auf die Kräfte der Fantasie – oder je nachdem: der Fantasy – vertrauen. So wird dann auch ein excaliburartiges Küchenmesser zum treuen Gefährten Theos, um diesen Abstecher in die grüne Hinterwelt ordentlich abzuschließen, und die Folgen, zu denen ein neu entdecktes Geschwisterchen zählt, einem geregelten, nun wieder wie das Schriftbild schwarz-weißen Leben zu integrieren.

So gehen vierzig Jahre ins Land.

Zeit genug für einen Seitenblick auf die Entwicklung von Steinfests Schreiben. Dass dieser zwischen Australien, Wien und Stuttgart zu verortende Autor ein Meister der Abschweifung ist, klang bereits an. Mühelos könnte es seine Fabulierlust mit dem aufnehmen, was professionelle Geschichtenerzähler auf orientalischen Basaren treiben. Gemächlich mäandert er durch seine ausufernde Einbildungskraft, dies und jenes unterwegs Begegnende in den anschwellenden Fluss des Erzählens aufnehmend. Am Anfang standen klug verspielte Krimis. Doch Steinfest hat inzwischen so viel in das Genre gepumpt, bis es geplatzt ist wie der Wal in seinem letzten Roman „Der Allesforscher“. Wie dessen Protagonist durch diesen seltsamen Unfall auf eine andere Umlaufbahn geschleudert wurde, so zirkulieren Steinfests Bücher inzwischen im Sonnensystem der besten deutschsprachigen Romane.

Doch in der Schwerelosigkeit lauern eigene Gefahren. Man begegnet ihnen, wenn man dem in seinem gewöhnlichen Leben zum Astronauten gereiften Theo auf seinen Reisen durch das All folgt. Nach vierzig Jahren nämlich, um zwei Frauen, fünf Kinder und viele Erfahrungen reicher, stößt er abermals, ausgerechnet auf der Fahrt zum bekanntlich von grünen Männchen bevölkerten Mars, auf jenes rolloverhängte Wurmlochfenster.

Entzauberung der Ideenwildnis

Aber ach, Erwachsenen bietet sich manches anders dar als Kindern, die auf die andere Seite wechseln. Erwachsene streben nach Sinn, umso mehr, wenn sie das Göttliche im Namen führen wie Theo. Und so verwandelt sich das grüne Reich zusehends in eine Art Mysterientheater, in dem sich religiöse, literarische und cineastische Anspielungen zu einer mühsamen Mythologie verdichten, die selbst in der schwerelosen Sphäre dem stets zum Plaudern aufgelegten Erzähler wie ein Mühlstein um den Hals hängt.

Seit der Erfindung des Kinos, seit also ein Stück Leinwand in einem dunklen Raum wie jenes Rollo den Zugang zu alternativen Formen der Wirklichkeit bahnt, findet sich die Irritation unseres Daseinsgefühls häufig in der Vermutung wieder, man befinde sich möglicherweise im falschen Film. Hier fühlt man sich immer wieder im falschen Buch: Kafka oder doch nur Michael Ende?

Steinfest will eine fantastische Geschichte erzählen und gleichzeitig über sie hinausführen, wohin, das scheint ihm selbst noch unklar. Sie muss zur Parabel werden, zur Sicherheit legt er ihr am Schluss noch einen rationalen Schlüssel bei. Ein Neurowissenschaftler holt das Geschehen auf den Boden der Tatsachen zurück. Ausgerechnet! Einer von denen, die sich anschicken, die fantastische Ideenwildnis, in die sich dieser Erzähler so gerne verliert, in Hirnareale zu übersetzen. So wandelt sich Steinfest, der sonst wie kein zweiter das Wesen des Kindlichen und den rettenden Einspruch der Vorstellungskraft gegen die neunmalkluge Prosa des Alltags verteidigt, hinter dem Rollo selbst zum Entzauberer.

Die Lehre, die seine Figuren mit sich herumschleppen, macht sie kränklich und grün. Man sollte das Rollo hochziehen und das Fenster öffnen. Etwas Licht und Luft würde ihnen gut tun.