Mag sein, dass auch das Jenseits nicht perfekt ist, trotzdem bewegt uns im Diesseits die Frage, die sich auch Christus am Kreuz stellt: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – Gedanken zu Tod und Wiederauferstehung von Heinrich Steinfest.

Stuttgart - Die schönste Ostergeschichte, die ich kenne, beginnt als Weihnachtsgeschichte, und das ist ja nicht ganz unlogisch. Es ist die Erzählung „Bergkristall“, sie trug ursprünglich den Titel „Der heilige Abend“ und stammt von Adalbert Stifter, einem der Schreckgespenster des Deutschunterrichts, was aber vielleicht nicht an Stifter, sondern an manch gespenstigem Deutschunterricht liegen mag.

 

Stifter beginnt diesen Text mit den Worten: „Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen.“ Und weiter: „Das Traurige und Schwermütige der Karwoche und darauf das Feierliche des Sonntags begleiten uns durch das Leben.“ Damit ist das Exemplarische von Passion und Auferstehung angesprochen, und wie sehr jedes einzelne Leben – nicht nur das dramatische Leben, auch das alltägliche – sich in den Dimensionen von Leid, Verachtung und Einsamkeit spiegelt, aber auch von Trost, Überwindung und Vereinigung. Und vor allem: Wiedersehen. Und damit ist nicht erst das Wiedersehen nach dem Tode gemeint. Christus‘ Auferstehung – belegt oder nicht, bezeugt oder nicht – dient vor allem dazu, noch einmal den Seinen zu begegnen, den Freunden und Anhängern. Ihnen nicht allein in Erinnerung zu bleiben als Opfer am Kreuz, als ein Geschundener, der sich des Wunders entsagte, Nägel verschwinden zu lassen, die eigenen Wunden zu verschließen und mit souveräner Selbstverständlichkeit vom Kreuz zu schweben. Wodurch die ganze Geschichte ja zum Märchen verkümmert wäre oder zur Karikatur, im Grunde zu einer vorweggenommenen Monty-Python-Version. Die Auferstehung hingegen erscheint als zeichenhaftes Phänomen plausibel und sinnstiftend.

Aber zurück zu Stifter, dessen Geschichte also am Heiligen Abend beginnt, als zwei Kinder, Konrad und Sanna, von ihrer Mutter losgeschickt werden, um die Großeltern im Dorf auf der anderen Seite des Berges aufzusuchen und Geschenke zu bringen. Der Berg trennt nicht nur die Ortschaften, sondern im wahrsten Sinne auch die Menschen, Gschaider und Millsdorfer, die nichts voneinander wissen wollen und so tun, als würde nicht ein Berg, sondern ein Kosmos, ein schwarzes Loch sie trennen.

Die Kinder nun sind die des Schusters von Gschaid, deren Mutter aber entstammt einer angesehenen Färberfamilie aus dem reicheren und mehr der Welt zugewandten Millsdorf. Und es sind darum also diese Kinder, in denen zur Hälfte Gschaider, zur anderen Hälfte Millsdorfer Blut fließt (manchen kommt vor, es seien Mischwesen), die da ganz alleine den Weg auf sich nehmen, um die Großeltern zu besuchen. Von diesen geherzt und versorgt, brechen sie bald wieder auf, denn der Weg ist lang und der Tag kurz. Doch die Disziplin nutzt nichts, die Geschichte bedarf der Dramatik: Es beginnt zu schneien, immer stärker, bald so dicht, dass die Kinder jegliche Orientierung verlieren, vom Pfad abkommen, nicht hinunter ins Tal gelangen, sondern weiter hinauf auf den Berg steigen, immer höher und letztlich in eine Gletscherwelt gelangen, die sie machtvoll labyrinthisch umfangen hält und sie zwingt, die Nacht am Berg zu verbringen. Da stehen sie also Hand in Hand, über ihnen das besternte Weltall und hinter ihnen der Tod, der ihnen rechts und links seine Hände auf die Schulter legt.

Mein Gott,

warum hast du mich verlassen?

Ist nicht dies der Satz, der uns am meisten bewegt, wenn wir uns den gekreuzigten Christus denken? Und wir denken diesen Satz ja selbst immer wieder in verschiedenen Bedeutungen und Variationen, den eigenen Vater, die eigene Mutter meinend, das Schicksal, die guten Geister, immer dann, wenn uns das Glück verlässt oder das Glück sich gar nicht erst einstellt, sadistisch aus der Ferne winkt und die Lottomillionen immer dort herunterregnen lässt, wo wir selbst gerade nicht stehen.

Klar, wir sagen gerne: Hauptsache gesund. Nur leider ist das nicht der Deal. Nicht alle, die keine Millionen gewinnen, bleiben gesund. Die Krankheit, das Kranksein, begleitet so viele und ist völlig blind für die Frage, ob wir es verdienen oder nicht, solcherart geschlagen zu sein. Die Krankheit setzt sich an den Tisch, und selbst wenn sie wieder aufsteht und geht, wissen wir, dass sie in der einen oder anderen Form wiederkehrt. Sie gehört gewissermaßen zur Familie. Wie heißt es in Jakob van Hoddis‘ Gedicht „Weltende“: „Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.“ In der Tat, denn der ultimative Schnupfen ist der Tod, das Ende eines jeden Lebens. Was aber ist nach dem Schnupfen? Überwinden wir ihn? Gehen wir ins Licht oder in die Dunkelheit? Oder ist das Jenseits auch nur eine weitere Krankenstation, die Fortsetzung des Schnupfens mit anderen Mitteln?

Darum das Bild der Auferstehung, wenn also Christus am dritten Tag sich aus seinem Grab erhebt beziehungsweise erhoben wird. (Eine meiner Romanfiguren drückt es einmal so aus: „Es ist ein Bild. Alles ist ein Bild. Diese Bilder helfen uns, die Orientierung zu behalten. Diese Bilder sind wie die Leintücher, die sich ein Geist überstülpt, damit wir ihn sehen können. Der Geist will ja wahrgenommen werden, und sei es als ein weißes Gespenst. Dem Gespenst können wir folgen, weil wir das Leinen erkennen. Das ist der Sinn von Bildern.“) So ist also das Bild der Auferstehung genau jenes Leinen, dem wir folgen können. Keine Karikatur, kein Hokuspokus, nicht einmal ein Mirakel, sondern ein Prozess der Verwandlung. Einer Verwandlung, in die wir unsere Hoffnung legen.

Klar, diese Auferstehung diente nicht zuletzt als Missionsauftrag für jene, die dem wiederbelebten Christus begegnen durften (ohne ihn gleich zu erkennen, was bei einer Verwandlung wenig verwundert). Worüber man sich nun wirklich streiten kann, ist die Frage, wie dieser Missionsauftrag zu verstehen war und ist. Endet er etwa mit der Gründung einer Vatikanbank? Damit, in weiß zu heiraten? Christliche Parteien zu wählen? Manchmal Spinat zu essen, auch wenn man kein Matrose ist?

Oder ging es nicht vielmehr darum, mittels der Auferstehung den Jüngern zu verzeihen, ja, das Verzeihen und Vergeben in die Welt zu bringen? Den Menschen eine Vision zu geben, die letztlich dazu führen sollte, nie wieder einen Menschen an ein Kreuz zu schlagen, und wohl auch, denke ich, kein Tier? Nichts und niemanden? An ein Kreuz nicht und auch sonst an nichts? Der Schnupfen des Lebens ist unvermeidbar, die Kreuzigung schon. (Kann man sich vielleicht vorstellen, dass nicht nur Menschen sich von Gott verlassen fühlen, sondern auch Gott von den Menschen? Und damit ist nicht gemeint, in Scharen aus der Kirche auszutreten.)

Die Kinder in Stifters Erzählung überleben die Nacht. Später wird das Mädchen die Lichterscheinungen am Nachthimmel dahingehend interpretieren, ihr sei der heilige Christ erschienen. Stifters schriftstellerische Gabe besteht darin, dieses Überleben – und freilich ist es eine Auferstehung – als eine Heilung aller zu begreifen, der Gschaider wie der Millsdorfer, die sich gemeinsam an der Rettungsaktion beteiligen und die gemeinsam das „Wunder“ empfangen. Dabei mag es letztlich ein Zufall sein – weil ja auch Wunder mindestens so ungerecht erfolgen wie Lottogewinne – oder auf den Umstand zurückzuführen sein, dass der kleine Konrad sich in dieser Nacht überlebenstechnisch klug verhalten und seine Schwester am Einschlafen gehindert hat, aber die Dörfler ziehen eine Lehre aus dem Ereignis, die doch darüber hinausgeht, nämlich die, in Zukunft eine Art Schülerlotsen auf dem Weg aufzustellen.

Heute würde man sagen: Das kommt, weil die kein Handy dabei hatten.

Aber die Dörfler erkennen in den Kindern ihr eigenes Verbundensein miteinander. So beschließt etwa der Färber, der seit der Hochzeit seiner Tochter niemals in Gschaid gewesen war – wie um sich nicht anzustecken, etwa mit einem exotischen Schnupfen –, die anderen Dörfler dorthin zu begleiten. Im Gschaider Wirtshaus ergibt sich sodann eine pfingstartige Verschweißung der lebendigen Seelen – wobei es ein hübscher Verweis Stifters aufs Allzumenschliche ist, dass natürlich auch viel darüber referiert wird, was man alles hätte anders und besser machen können. Denn Pfingsten schließt ja die Besserwisserei nicht aus. Nichts vermag das, und es ist zu vermuten, dass zwar im Jenseits Dinge wie Steuerbetrug oder das Zeitungswesen ihr Ende finden, aber ganz sicher nicht die Besserwisserei.

Doch schließlich heißt es bei Stifter: „Die Kinder waren von dem Tage an erst recht das Eigentum des Dorfes geworden, sie wurden von nun an nicht mehr als Auswärtige, sondern als Eingeborene betrachtet, die man sich von dem Berge herabgeholt hatte.“ Genau so, als würde man sagen, jemand sei vom Kreuz heruntergeholt worden. Jedoch noch bevor der Tod ihn fand.

Es bleibt dabei, die Mission des Menschen ist, seinesgleichen vom Kreuz zu holen. Vom Berg zu holen. Abzuholen. Herzuholen. Aber ohne Missionierungstheater. Was denen gesagt sei, die am Liebsten sogar Gott bekehren würden.

Unsere Kirche feiert verschiedene Feste,

die zum Herzen dringen.

Stimmt, wenn man von Ostern spricht, denken viele Menschen an einen Hasen, der Eier versteckt. Eier, Pralinen, CDs. Wobei dieses Langohr ja durchaus auf eine christliche Symbolik zurückgeht, auch wenn heutige Illustrationen den Osterhasen eher als einen vertrottelt-komischen Agenten der Schokoladeindustrie denn als ein Auferstehungssymbol erscheinen lassen. Wie auch immer, zumindest Wikipedia beruhigt uns mit einem schönen Satz, der hier den Abschluss bilden soll: „Heute gilt es weithin als unschädlich, kleineren Kindern zu vermitteln, der Osterhase bringe Eier und Süßigkeiten zum Osterfest.“ Auf der Seite der Zahnärztlichen Vereinigung habe ich freilich nicht nachgesehen.